Der erste Todestag

Der Tag davor – Warum der erste Todestag mehr auslöst als der eigentliche Tag des Abschieds

Der Tag davor ist immer schlimmer als der eigentliche Todestag.
Diesen Satz hatte ich mir mit Bleistift ganz oben in meinen Kalender geschrieben – für den Fall, dass ich es vergessen sollte.
Darunter, mit lila Filzstift: Oktoberfest, 15 Uhr.

Es ist die Uhrzeit, zu der ich in den Blumenweg einbiege – die Straße meiner Kindheit. Nur zehn Minuten von meiner heutigen Wohnung entfernt und doch eine ganz andere Welt. Eine Welt, die früher mein Leben war.

Schon aus der Ferne sehe ich das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Blick wandert instinktiv zu den Vorhängen im Erdgeschoss – dem alten Schlafzimmer meines Vaters. Früher bewegten sie sich, wenn er mich kommen sah. Heute bleiben sie still. Die Stille schneidet mir die Luft ab.

Mein Leben in drei Akten – und wie der Tod den Vorhang verschiebt

Dieses Haus ist kein Gebäude.
Es ist ein Seismograph meiner Trauer.

Akt 1: Die farbige Welt

Ich war Kind. Wir waren zu fünft: Mutter, Vater, drei Kinder – und oben im Dachgeschoss: meine Oma. Das Haus war erfüllt von Geborgenheit, Ritualen, Duft von frisch gebrühtem Kaffe und dem sicheren Gefühl: Hier gehöre ich hin.

Akt 2: Der Boden beginnt zu beben

Ich bin 13. Meine Pubertät, meine erste große Liebe (Robbie!), mein Leben kreist um Freundinnen, Bravo-Stars, Schulhofdramen.
Währenddessen beginnt meine Mutter, aus dem Leben zu verschwinden – erst äusserlich, dann innerlich. Krankenwagen, Reha, Rückfälle. Der Seismograph schlägt aus.

Mit 16 reißt ein einziger Anruf alles auseinander.
Darmkrebs. Krankenhaus. Kruzifix über der Tür.
Tod.
Die Skala bricht. Mein inneres Messgerät ist kaputt. Die Welt verliert ihre Farbe.

Akt 3: Flucht, Rückkehr, Zusammenbruch

Ich ziehe mit Anfang 20 aus – in der Hoffnung, mein Leben zu retten. Jahre später flüchte ich aus einer zerstörerischen Beziehung zurück in den Blumenweg. Erst in den Keller, dann ins Dachgeschoss meiner verstorbenen Oma. Zehn Jahre bleibe ich dort – zwischen Familie, Pandemie und der ständigen Erinnerung daran, dass meine Trauer nie verarbeitet wurde.

Ich werde krank. Burn-out. Depression. Panikattacken.
Das Haus, einst Heimat, wird zum Ort des inneren Erstickens.

Doch ich beginne die Trauer um meine Mutter aktiv zu integrieren: Therapie, Pferdearbeit, spirituelle Reisen, Schwimmen mit Walen in Sri Lanka, Delfinen in Ägypten. Ich finde langsam zu mir zurück. Der Seismograph wird ruhig.

Mit 40 ziehe ich endgültig aus. Meine erste eigene Wohnung.
Stille. Freiheit. Angst.
Aber auch: ein erster Atemzug.

Der Seismograph stabilisiert sich – bis zum ersten Todestag

Bis zu jener Nacht im Oktober 2024.
Ein random Montag. Herzstillstand. Mein Vater stirbt.
Mit ihm stirbt meine Kindheit – diesmal endgültig.

Der erste Todestag meines Vaters ist mehr als ein Datum.
Er ist ein inneres Beben. Eine 7 auf der Richterskala.

Das erste Todesjahr stellt mich vor die Frage: Wer bin ich ohne ihn? Was ist mir wirklich wichtig? Welche Werte trage ich – wenn kein Elternteil mehr über mir steht?

An diesem Nachmittag davor, geht mein Leben weiter. Mitten in der Freude meines Neffens beim Achterbahn fahren, Ochsensemmeln und Erinnerungen an ein Oktoberfest als mein Vater mich auf seinen Schulter trug und der Bedienung 50 Mark gab für einen Tisch in der Fischer Vroni.

Der erste Todestag – der Versuch, ihn richtig zu begehen

Man soll sich einen Plan machen für den ersten Todestag, heißt es. Und sich erlauben davon abzuweichen. Also fasse ich am Vorabend den Plan, ins Museum zu fahren. 11:50 Uhr, Zug nach Murnau. Ein Plan, der mir Struktur geben soll. Ein Plan, von dem ich gleichzeitig weiß: Er ist nur ein Platzhalter für etwas, das sich nicht planen lässt.

Am Morgen fühle ich mich wie erschlagen. Nicht müde – sondern schwer. Ich zwinge mich aus dem Bett, mache meine Morgenroutine. Ich hatte mir versprochen, meinem Vater einen Brief zu schreiben, so wie ich es durch das gesamte Trauerjahr getan hatte. Also schreibe ich: Lieber Papa… Ich erzähle ihm, wie sehr meine kleine Irene ihn vermisst und dass die große Irene anfängt zu akzeptieren, dass unsere Zeit zusammen begrenzt war. Was er alles verpasst. Die Antwort bleibt aus – und genau dieses Schweigen tut weh.

Trauer, die keinen Raum bekommt

Während ich noch schreibe und mir die Tränen über die Wange laufen, ruft meine Tante an.
„Na, wie geht’s dir?“
Ich will vom Brief erzählen, doch sie fällt mir ins Wort und erzählt von ihrer Kerze, ihrem Weinen, ihrem Ritual. Wieder dieses Gefühl, dass meine Trauer keinen eigenen Raum bekommt. Als ich auflege, sehe ich: Zug verpasst. Ich beschließe, mich nicht zu stressen. Heute zwinge ich mich zu nichts.

Erinnerungen, die schwerer wiegen als jeder Plan

Mein Magen knurrt. Trauer macht hungrig, denke ich, während ich in der Metzgerei stehe, umgeben von grauen Köpfen der Nachbarschaft. Was würde Papa jetzt bestellen? Leberkäs, separat eingepackt. Die eine bestimmte Semmel. Ich spüre ihn neben mir, sehe ihn vor mir – lebendig und gleichzeitig unerreichbar.

Ich fahre nach Starnberg. Setze mich an den See. Die Sonne scheint, als wüsste sie nichts von diesem Tag. Das Bild meiner Eltern bei ihrer Hochzeit taucht in mir auf: meine Mutter im grünen Samtkostüm, mein Vater im Siebzigerjahre-Anzug. Meine Kindheit. Ihre Liebe. Mein Herz trägt Wackersteine, zusammengeschichtet aus all dem, was war und nie wieder kommt.

Mein eigenes Gedenken

Ich sitze. Ich atme. Kein offizielles Ritual, keine spirituelle Eingebung. Nur ich und der See und die Erinnerung an ein Leben, das mich geprägt hat. Am Abend packe ich meinen Koffer für den Flug nach Korfu. Im Flugzeug nehme ich mir vor, nach meiner Rückkehr ans Grab zu gehen und meinem Vater einen Ouzo hinzustellen – in Erinnerung an all die Mahlzeiten, die uns verbunden haben.

Vielleicht ist das mein Ritual. Kein Plan, den man abhakt. Sondern ein Moment echter Verbindung. In mir.

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