FOMO rückwärts
Doch auch am nächsten Tag beschäftigt mich das Wort, nicht agápi, sondern das Wort Familie. Ein alter Schmerz zieht in mein Herz. Die Frage nach dem “wo gehöre ich hin?”
Ich denke zurück an meinen Kurztrip nach Griechenland dieses Jahr. Eine Erbschaftsangelegenheit musste geregelt werden und mein persönliches Erscheinen plus Unterschrift waren dazu nötig. Nach Thessaloniki zurückzukehren war nicht wirklich, wie “nach Hause” kommen. Hier hatte ich zwar bei dem griechischen Teil meiner Familie, doch wirklich heimisch fühlte ich mich dort nicht. Da half auch nicht, dass mein vergilbtes Kinderfoto mir zulächelte.
Den griechischen Teil meiner Verwandtschaft nach mehr als 20 Jahren wieder zu sehen, war, als hätte ich mich erst gestern von ihnen verabschiedet. Keiner hatte sich verändert. Meine Cousin/Cousine haben insgesamt vier Kinder großgezogen in der Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten. Stolz zeigten sie mir und meinem Bruder ihre Kinder über Facetime. Wir winkten in die Kamera, irgendwie Fremde und irgendwie auch nicht.
Den Stolz und die Liebe, den mein Cousin/Cousine für ihre Kinder haben, habe ich nicht erlebt.
Als mich mein Cousin und seine Ehefrau am Abend unserer Ankunft in mein Hotelzimmer brachten, “just to make sure you are okay”, traten mir die Tränen in die Augen, nachdem ich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Ich musste an die vielen Hotelzimmer denken, in denen ich die letzten Jahre übernachtet habe. Mit Schrecken ist mir bewusst geworden, dass mich zuvor noch nie jemand zu diesen Türen gebracht hat.
Ich hatte mich so gegen diesen Kurztrip gesträubt. Mir erschien es so sinnlos für eine bürokratische Sache extra Zeit, Energie und Geld in die Hand zu nehmen. Konnte man das nicht von München aus regeln? Über das Konsulat? Lange zögerte ich diese Reise hinaus, lange überlegte ich hin und her. Am Ende war es die schönste Reise, die ich je gemacht habe.
Die Ehefrau meines Cousins ging mit uns dann auf das Amt. Am Abend vorher wurden mein Bruder und ich noch gebrieft: “Tut so, als würdet ihr griechisch sprechen können.” Uns wurden ein paar Sätze beigebracht. “Hallo, ich heiße Kasapis.” “Ich wohne in München.” Naja, beigebracht ist zuviel gesagt. Beide meiner Brüder haben einen Sommer griechisch Kurs in Thessaloniki gemacht, ich hatte “nie Zeit”. Um ehrlich zu sein, hatte ich nie den Mut.
Genauso wenig hatte ich den Mut, für ein Austauschprogramm im Gymnasium nach Leipzig zu gehen. Stattdessen kamen zwei nette Mädels zu uns und eine verlor ihre Kontaktlinse im Waschbecken. Seltsam an was ich mich erinnere.
Mein großer Traum, mit einem anderen Austauschprogramm in die USA zu gehen, scheiterte auch. An was, weiß ich schon gar nicht mehr.
Meine offizielle Ausrede war immer meine Oma. Sie wäre zu alt und bräuchte mich als Hilfe im Haushalt, besonders nach dem Tod meiner Mutter. Dass meine Oma den kompletten Haushalt schmiss – inklusive frisch gekochter Mittagessen jeden Tag, musste ja keiner wissen.
Habe ich also eine oder mehrere wesentliche Lebenserfahrungen verpasst?
Hätte ich jetzt, mit 43 den Mut dazu, nochmal ganz neu in einer anderen Stadt, in einem anderen Land neu anzufangen?
Ich habe keine Antworten auf diese Fragen.
Zurück bleibt nur FOMO – die Angst (in der Vergangenheit) in meinem Leben etwas verpasst zu haben.