Wer sitz hier eigentlich am Steuer?

Es ist einer dieser Sommertage im August, wo alles perfekt erscheint. 

Ich lag den halben Tag im Park – perfekt. 

Mein Stammplatz trägt noch meinen Körperabdruck von gestern – perfekt. 

Ein Buch habe ich fertig gelesen – perfekt. 

Ein weiteres wartet schon auf mich – perfekt. 

Jetzt sitze ich auf dem Rad auf dem Weg nach Hause. Ein warmer Wind weht mir um die Ohren, die Luft ist noch so warm, dass ich abends um 7 noch schwitze, der Himmel über mir so blau, wie… 

“Du hast deiner Tante versprochen, das Grab zu gießen.” kommt es aus meiner Tasche, die sowieso schon vollgepackt ist mit Essen, Bücher, meinen Stiften und meinem Mandala Malbuch. Wie meine Trauer sich da rein gequetscht hat, ist mir ein Rätsel. Muss wohl einer ihrer magischen Tricks sein.

“Ich will nicht. Kann nicht ein Tag lang alles perfekt sein?” stöhne ich zurück. In dem Moment, als meine Trauer sich gemeldet hat, erkenne ich, dass auf meinem Lenker vor mir mein Leben sitzt. Sein pinkes Träger Top flattert im Wind und es versperrt mir die Sicht. Mein Rad ist gefühlte 20 Kilo schwerer geworden mit meinen zwei Reisebegleitern. Kurz schlingert mein Rad. Ich denke, dass wir stürzen, doch mein Leben ruft begeistert: “Du kannst das – Irene!” 

Also biege ich links ab. Eigentlich geht es rechts nach Hause. Dass meine Trauer überhaupt das Haus verlassen hat, grenzt schon an ein Wunder. “Is zu heiß!” maulte sie und schmiss noch eine Folge von unserer geliebten Netflix Sendung Love is blind an und schob sich ein weiteres Eis in den Mund. Mit der Aussicht auf noch ein Eis von dem Lieblings Konditor in meinem Viertel (Kugel Eis: 2,20 EUR! – aber hey, für meine Trauer scheue ich keine Kosten), konnte ich sie dann doch dazu bewegen, ihren Hintern nach draußen zu bewegen. 

Ich radle jetzt durch den Friedhof. Eigentlich dachte ich a l l e und damit wirklich a l l e Wege in diesem “großen Garten”, wie meine Tante diesen Ort immer nennt, zu kennen. In der Corona Zeit war ich hier täglich stundenlang spazieren. Doch irgendwas scheint in meinem Gehirn heute nicht zu funktionieren, ob es die Hitze des Tages ist oder mein leerer Magen, aber ich verfahre mich. 

Ich finde das Grab meiner Mutter und Oma nicht. 

Die bemoosten, verwitterten Steine am Wegesrand zeigen alle die falschen Nummern!

“Nur die Ruhe bewahren!” ruft mein Leben vor mir auf dem Lenker und steckt sich die teure Sonnenbrille, die eigentlich meine ist, ins Haar. 

“Ich finde das Grab nicht!” Die Tränen schießen mir in die Augen. „Mama, ich finde dich nicht!” Meine Sicht verschleiert sich. Da spüre ich die Hand meiner Trauer auf meinem Rücken. Sie zieht kleine Kreise und beruhigt mich. 

“Fahr einfach weiter, bis dir etwas vertraut vorkommt.“ Ich radle weiter an 100 Grabsteinen. 100 Namen mit ebenso vielen, wenn nicht noch mehr Hinterbliebenen. 

Plötzlich taucht ein Grabkerzen Verkaufsautomat auf, den ich erkenne. Ich radle weiter auf ihn zu und sehe, dass es der Weg zum Haupteingang des Friedhofs ist. Gleichzeitig auch der Notausgang, was ich aber auch erst weiß, nachdem ich mich am Friedhof eingeschlossen hatte. 

Ich atme tief durch und drehe vorsichtig um. Ich kenne jetzt wieder den Weg. Mühelos radle ich nun zu dem rosa Marmorstein, der für immer den Namen meiner Mutter trägt und wo nur eine Kerze an meine Oma erinnert. 

Wann war ich das letzte Mal hier? frage ich mich, als ich absteige. Es muss noch vor meinem Job gewesen sein. Plötzlich bekomme ich eine schreckliche Angst, dieses Viertel, in dem ich schon immer wohne wegen meines geplanten Umzugs verlassen zu müssen. Das Grab meiner Mutter und Oma. All die Erinnerungen, die in jedem Winkel in diesem Viertel stecken… Ich kann die doch nicht auch noch zurück lassen. Wieviel loslassen muss ich denn noch in meinem Leben? 

Mein Leben betrachtet aufmerksam den Grabstein, die Eisbegonien, die meine Tante gepflanzt hat und den bunt bemalten Stein, den ich irgendwann zu den Porzellan Engel auf den kühlen Marmor gelegt habe. Meine Mutter sollte ein Stück von mir bei sich haben. 

“Weißt du…” fängt meine Trauer an, während wir beide zu dem nahegelegenen Brunnen gehen, um Wasser zum Gießen zu holen. “… deine Mutter hätte nie! Niemals gewollt, dass du so leidest wegen ihrem Tod.” Meine Trauer dreht mühelos den Wasserhahn des Brunnes auf, den ich immer nur mit Müh und Not aufbekomme. Kurz legt sie den Kopf schief und lauscht dem rauschenden Wasser und ihrer Quelle. 

Entschieden schüttelt sie den Kopf: “Nein! Sie wollte, will, dass du dein Leben liebst!” 

Schwungvoll schnappt sich meine Trauer zwei der schweren Gießkannen und watschelt so zum Grab. Stumm dackle ich ihr hinterher. Es ist nicht so, dass ich diesen Gedanken nicht schon 1000 mal selber gedacht hätte. Es hat einfach so verdammt weh getan meine Mutter zu verlieren. Ich war 16 Jahre alt!

Meiner Trauer beim gießen zuguckend, stehen meine Leben und ich vor dem Grab. Mir fließen die Tränen die Wangen herunter, wie vorhin noch der Schweiß. Mein Leben nimmt meine Hand sanft in ihre und flüstert mir ins Ohr: “Agápi.”

Später, zu Hause, mein Leben liegt frisch geduscht auf meinem Balkon, meine Trauer mit der nächsten Folge Love is blind auf der Couch, google ich, was “Agápi” bedeutet: 

Αγάπη (agápi) ist das griechische Wort für Liebe. Es ist ein umfassender Begriff, der viele verschiedene Arten von Liebe umfassen kann, von romantischer Liebe bis hin zu familiärer und freundschaftlicher Zuneigung. 

Kurz frage ich mich, ob mein Duolingo griechisch Kurs (Lektion eins: ”to avocado einai ros” – “Die Avocado ist pink.”) auf mein Leben abfärbt. Doch dann stupst mich meine Trauer in die Seite und wackelt mit den Augenbrauen. Ein gut aussehender Mann steht vor der Kamera. Ich lege das Handy weg und lasse mich von den Dramen anderer verführen.

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