Mein Leben muss sich wohl frei gestrampelt haben

Erinnerung an häusliche Gewalt: Mein Weg zurück ins Leben

Ich öffne meine Augen. Ein sechstüriger weißer Einbaukleiderschrank steht plötzlich vor mir. Eine Tür steht offen. Ich sehe Blusen, Röcke und Stiefel. Meine alte, graue Leder-Umhängetasche von Liebeskind. Mir schießen Tränen in die Augen. Oh nein, oh nein! Nicht schon wieder eine Reise zurück in eine Erinnerung! Auf meinen Brustkorb setzt sich ein unsichtbarer Elefant. Ich weiß genau, wo ich so plötzlich gelandet bin. Das schwärzeste Schwarz meiner Angst, die sich in dieser Zeit bei mir als Dauermieter eingenistet hatte, ergießt sich über mein Herz. Ich bin in der ersten gemeinsamen Wohnung von Christopher und mir gelandet. Das letzte Mal, dass ich mit einem Partner zusammen wohnte.

Hastig blicke ich mich um. Die Schlafzimmertür ist nur leicht angelehnt und ich höre ein leises Schnarchen. Puh, okay! Er scheint noch zu schlafen. Wieso bin ich ausgerechnet jetzt wieder in dieser Erinnerung gelandet? Mein Leben, meine Trauer und ich wollten mir doch einen Job suchen. Mein Blick fällt auf den Donald-Duck-Kalender, der über einer dunkelbraunen Holzkommode im Flur hängt. Beides “Geschenke” von Christophers Mutter. Dass ich es damals nicht in Ordnung fand, dass jemand anderes Möbel für uns kaufte und diese dann einfach so vor der Tür standen, verstand damals niemand aus Christophers Familie. Das Datum auf dem Kalender zeigt den 1.2.2011. Auf der Holzkommode liegt ein Block und ein Kugelschreiber mit einem mir nur allzu bekannten Firmenlogo. Oh nein! Ich bin in einer der schlimmsten Erinnerungen gelandet. Der Tag, an dem ich einen neuen Job anfing, auf den ich so stolz war. Ich hatte ihn selbstständig organisiert, Christopher hatte mich zum Vorstellungsgespräch außerhalb von München gefahren und dort sogar auf mich gewartet. Eine der wenigen schönen Momente, an die ich mich aus dieser Beziehung erinnere. Mit dem neuen Arbeitsvertrag kamen der Block und der Kugelschreiber per Post. Ich muss mir beides am Vorabend des großen Tages rausgelegt haben, damit ich es ja nicht vergesse.

Plötzlich höre ich ein Geräusch aus dem Kleiderschrank. “Mhm Mhm MMM!” Die geschlossene Tür klappt auf und zu, als würde sie jemand von innen aufdrücken wollen. Erschrocken mache ich einen Satz nach hinten und stolpere. Ich rapple mich auf und sehe einen Teppich im Flur liegen. Seltsam! Ich bin mir zu 100% sicher, dass hier in Wirklichkeit kein Teppich lag. Christopher hasste Teppiche. Rasch mustere ich das Muster des Teppichs. Verblichene rote Blumen, verschnörkelte Ornamente. Ich fasse es nicht! Das ist der Teppich, unter den ich meine Trauer jahrzehntelang gekehrt habe! Wie kommt der denn hierher? Meine arme Trauer! Nicht schon wieder! Das letzte Mal hat sie eine Hausstaub-Allergie unter dem Teppich entwickelt. Ich greife schon nach einer Ecke des Teppichs, um meine Trauer zu befreien, als plötzlich die Tür des Kleiderschranks aufschwingt.

Es ist mein Leben! Ich erkenne es sofort an den bunten Klamotten, die es immer trägt. Allerdings, oh Schreck! Es ist mit gelb-schwarzem Klebeband an die Innenseite der Kleiderschranktür befestigt! Es sieht aus, als wäre es in einen Kokon verpackt. Eher gepresst. Wie ist das denn passiert? Nur die Füße meines Lebens sind noch frei und trommeln gegen die Tür des Kleiderschranks. Mein Leben muss sich wohl freigestrampelt haben.

Mit großen Augen sieht mein Leben mich überrascht an. “M ch Mi ch pfrei.” stößt es hinter dem Klebeband hervor, das auch über dem Mund klebt. Dieses Tape über dem Mund meines Lebens zeigt lauter fröhlich grinsende Smileys. Was zur Hölle?

“M ch Mi ch pfrei.” Mein Leben beginnt hastig ein- und auszuatmen. Dabei blähen sich die Nasenlöcher, wie bei einem Pferd, das gerade einen anstrengenden Ritt hinter sich hat. Hastig rapple ich mich hoch. Mit einem Schritt bin ich bei meinem Leben und reiße ihm das Klebeband vom Mund.

“AUA!” Das Schnarchen aus dem Schlafzimmer verstummt.

“SCH!” Ich lege meinen Zeigefinger auf meinen Mund, das internationale “Sei leise” Zeichen. “Er darf uns nicht hören! Was machst du denn hier?” frage ich mein Leben flüsternd.

“Wer er?”

“Na, er – du weißt schon. Christopher!”

“Christopher?” Mein Leben reißt an den Klebebändern und versucht sich hastig von seinem Klebeband-Gefängnis zu befreien. “Mit dem habe ich noch was zu besprechen!” Mein Leben ruckelt und zuckelt weiter an den Klebebändern, doch diese sitzen bombenfest.

Nicht!” ermahne ich es. “Er darf dich nicht sehen!”

“Spinnst du? Der Typ kann mich mal!” Wieder ruckelt mein Leben an dem Klebeband – vergebens. Es bleibt festgeklebt. An der Innenseite meines alten Kleiderschranks.

“Bitte! Okay? Ich weiß nicht, warum wir wieder in dieser Erinnerung gelandet sind. Ich weiß nur, dass ich in diesen alten Erinnerungen nichts verändern darf.”

“Das ist doch Blödsinn! Bei RedStreet haben wir doch auch deine Erinnerung geändert.”

“Ich weiß nur, dass das erste Gebot auf den Zeitreisen mit meiner Trauer immer gewesen ist: Du darfst in der Vergangenheit nichts verändern.”

“Der Trauer werde ich was erzählen.” Die Stimme meines Lebens wird laut.

“SCH! Bitte! Sei leise! Wenn er dich findet, dann denkt er bestimmt, dass ich eine Affäre mit dir hatte. So wie damals mit meinem schwulen Freund Uli.” Genervt verdrehe ich die Augen.

“Irene?” Ich höre die Stimme von Christopher aus dem Schlafzimmer.

“Wo ist eigentlich die Trauer? Sollte die nicht immer mit auf der Reise in deine Erinnerungen sein?” Mein Leben kämpft immer noch gegen das Klebeband.

“Keine Ahnung. Bitte sei jetzt leise – okay.”

“Irene! Du lässt doch diese Scheiße nicht nochmal über dich ergehen? Nach all deiner Therapie, Coachings, etc. pp? Ernsthaft?” Hilflos zucke ich die Achseln. Tränen strömen mir jetzt schon über die Wangen. Viel zu früh, die kommen erst später. Jahre später.

“Irene?” Die Schlafzimmertür öffnet sich. “Es tut mir leid.” Hastig klebe ich meinem Leben das Klebeband mit den Smileys über den Mund und schlage die Tür des Kleiderschranks zu. “MMMM!” höre ich mein Leben noch stöhnen. Auch die schlechten Erinnerungen gehören zum Leben dazu. Ein Satz meiner Trauer, der mir plötzlich wieder ins Gedächtnis kommt.

In meinem Kopf beginnen sich jetzt die Zeitachsen zu verschieben. Ich weiß genau, wie dieser Morgen jetzt ablaufen wird. Christopher wird aufstehen, mich nach Kaffee fragen, seine Lieblingstasse nicht finden und mich dann, ja dann…

Er beschimpft mich als “Schlampe” wegen meines Outfits. Er wird richtig wütend. Packt dieser 1,90 Mann mich und knallt mich gegen die Eingangstür. Er würgt mich, bis ich keine Luft mehr bekomme.

Irgendjemand da oben passt auf mich auf und ich kann mich befreien. Im totalen Schockzustand und ohne jemanden irgendetwas zu sagen, beginne ich meinen neuen Job.

Ich höre ganz leise mein Leben aus dem Einbauschrank gegen die Tür treten. Als Christopher aus dem Schlafzimmer tritt, noch mit verstrubbelten Haaren und nur in Boxershorts, kippt bei mir ein Schalter um.

Ich nehme meine Tasche, meinen Mantel und den alten Schlüssel zu meinem Elternhaus. “Ich verlasse dich. Es reicht!” sage ich nur und sprinte dann aus der Wohnung, zur Bushaltestelle und alles um mich rum wird grau.

“Irene?” Mein Leben legt mir die Hand auf mein Knie und meine Trauer kniet hinter mir und ihre Hände liegen auf meinen Schultern. Die Wärme durchströmt mich bis in die Zehenspitzen. Hektisch schlage ich die Augen auf. “Was? Wo?” stammle ich und blicke mich hastig in meiner Wohnung um. “Es ist okay. Es ist 2024.” Leise spricht meine Trauer hinter mir in mein Ohr. Ihre vertraute Stimme beruhigt meinen Herzschlag. Ich blicke mein Leben wutentbrannt an. “Was für eine riesengroße Scheiße!” stoße ich hervor und stupse hart die Hand von meinem Leben weg und lehne mich zurück gegen meine Trauer. “Ist es eigentlich ein Wunder, dass ich so menschen- und vor allem männerscheu bin? Nach all dem Scheiß der letzten Jahre? Vor allem mit ihm?” Kurz flackert nochmal die Erinnerung in mir auf, wie sich die zwei Hände von Christopher um meinen Hals drücken, so dass ich keine Luft mehr bekomme.

Ich schüttele mich, als könnte ich so die Vergangenheit abschütteln. „Was hast du dir dabei gedacht?“, funkle ich mein Leben an.

„Ich? Äh?“, stammelt mein Leben verlegen. Es schaut betreten auf den Boden und zieht mit dem Finger die Maserung meines Parkettbodens nach. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Vielleicht entschuldigst du dich mal bei mir?“, fahre ich es an.

Mein Leben sieht mich hilfesuchend an. „Irene? Du musst aufhören, andere …“, meine Trauer deutet auf mein Leben, „… für alles verantwortlich zu machen, was schief gelaufen ist.“

„Ich dachte, du bist auf meiner Seite?“, frage ich meine Trauer und blicke in ihre blauen Augen, die mich immer an meine Mutter erinnern. „Woher kommt dieser alte Schmerz?“, frägt mich meine Trauer.

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Mein Bauch zieht sich zusammen vor einem Schmerz, den ich längst verarbeitet glaubte. Wütend wische ich mir die Tränen von den Wangen. „Ich weiß doch auch nicht, warum dieser alte Schmerz plötzlich wieder hochkommt. Vielleicht, weil ich jetzt vor einem Neuanfang stehe und der Job damals, auf den ich so stolz war und den ich so geliebt habe …“, Ich schluchze auf, „… er hat mir alles kaputt gemacht. Mein ganzes Vertrauen in mich, in andere und in Männer im Allgemeinen! Eine Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit und Leichtigkeit ist da, aber irgendetwas hält mich zurück.“

„Das ist aber die Angst und nicht der …“, ich halte die Hand hoch. „Stop! In meiner Wohnung will ich niemals diesen Namen aussprechen. Ich hasse es, dass ein Teil von mir immer noch an ihm zu hängen scheint. Selbst nach 14 Jahren Trennung und drei weiteren Partnern. Die Angst, noch einmal jemanden so nah an mich heranzulassen und so missbraucht, belogen und gedemütigt zu werden, sitzt einfach tief in mir. Ich weiß nicht, ob ich es bewusst gemacht habe, aber tief in mir habe ich an dem Tag meines ersten Arbeitstags geschworen, dass mir so etwas „nie wieder“ passiert.“

„Ist es auch nicht, dafür hast du gesorgt.“ Mein Leben steht auf und blickt durch die bodentiefen Fenster hinaus auf die leuchtend grüne Laubwand, die den Blick auf den gegenüberliegenden Krankenhaus-Parkplatz versperrt. Wann ist Sommer geworden?, frage ich mich kurz und registriere dann erst, was mein Leben gerade gesagt hat: „Was hast du gerade gesagt?“ Schwer erhebe ich mich und drehe mein Leben an den Schultern um. „Dass du immer noch dafür sorgst, dass dir keiner zu nahe kommt. Lieber kapselst du dich ab, versteckst dich in dieser Wohnung und jammerst gleichzeitig darüber, zu viel allein zu sein.“

„Ja, aber …“, ich stocke kurz, weil ich vor Wut gleich platzen könnte. „Hallo? Der Typ hat dich in den Schrank gesperrt? Erinnerst du dich nicht?“

„Teilweise, Irene. Ein bisschen Verantwortung für diese „Beziehung“ trägst du auch. Hat dich ja keiner gezwungen, bei ihm zu bleiben – oder?“, Die Augen meines Lebens leuchten jetzt grasgrün. Hat mein Leben schon immer grüne Augen gehabt?, frage ich mich kurz, um dann vollständig auszurasten. „Spinnst du? Ich dachte, das ist Liebe – okay? Deshalb bin ich nicht gegangen. Ich dachte, so ist eine Beziehung.“

„Das ist nicht Liebe. Das ist Kontrolle“, antwortet mein Leben trocken. Mir verschlägt es kurz die Sprache. Ich klappe den Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Kontrolle?“, spucke ich aus, als ich wieder die Sprache gefunden habe.

„Ja“, nickt mein Leben und blickt mich intensiv an. „Hier sind ein paar Merkmale für eine kontrollierende Beziehung.“ Mein Leben hebt die Hand und beginnt an den Fingern abzuzählen.

„Erstens: Eifersucht und Besitzergreifung – der kontrollierende Partner zeigt übermäßige Eifersucht und versucht, den Kontakt des anderen Partners zu Freunden, Familie oder Kollegen einzuschränken.

Isolation – der Partner versucht, den anderen von seinem sozialen Netzwerk zu isolieren, sodass er abhängig wird und weniger Unterstützung von außen erhält.

Überwachung und Misstrauen – der kontrollierende Partner überwacht ständig das Verhalten des anderen, liest seine Nachrichten, überprüft sein Telefon oder seine E-Mails und zeigt ein hohes Maß an Misstrauen.

Manipulation und Gaslighting – der Partner manipuliert die Realität, um den anderen zu verunsichern und seine Wahrnehmung der Realität in Frage zu stellen. Dies wird oft als Gaslighting bezeichnet.

Bestrafung und Belohnung – der kontrollierende Partner setzt Bestrafungen (emotional oder physisch) ein, um den anderen Partner für unerwünschtes Verhalten zu disziplinieren und belohnt ihn, wenn er sich wie gewünscht verhält.

Entscheidungen treffen – der kontrollierende Partner trifft alle wichtigen Entscheidungen und entzieht dem anderen Partner die Autonomie, eigene Entscheidungen zu treffen.

Kritik und Herabsetzung – der kontrollierende Partner kritisiert ständig und wertet den anderen Partner ab, um dessen Selbstwertgefühl zu untergraben. So!“, beendet mein Leben seine Aufzählung und lässt die Hand wieder sinken.

„Ich kann hinter jedem Punkt einen Haken setzen.“ Ich fasse mir an die Stirn, weil ich nicht fassen kann, dass ich so blind gewesen bin. „Bist du jetzt ChatGPT?“ frage ich mein Leben.


Hinweis: Bei häuslicher Gewalt oder akuter Bedrohung wende dich bitte umgehend an den Frauennotruf 116 016. In Notfällen ruf bitte die Polizei unter der Nummer 110 an. Deine Sicherheit und dein Wohlbefinden sind wichtig.

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