Mein Leben und meine Trauer stehen sich skeptisch gegenüber
“Was macht ihr da?” Meine Trauer materialisiert sich neben mir. Ich sitze auf meiner Couch und scrolle auf meinem Laptop durch unendlich viele Jobanzeigen.
Nach der Zeitreise zurück zu dem Tag der Weißen Tür haben mein Leben und ich, naja, wie soll ich das sagen? So vor uns hin gelebt – eben. Jeder hat sein Ding gemacht und in unserer kleinen Wohngemeinschaft ist ein bisschen Alltag eingetreten.
Ich hatte zwar meine Trauer gebeten zurückzukommen, dass sie jetzt wieder so plötzlich neben mir sitzt erschreckt mich dann doch. Immer diese Überraschungen – ich hasse das. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich fast meinen Tee über meinen Laptop schütte. Mein Leben greift in letzter Sekunde ein und reißt mir die Teetasse aus der Hand. Ein paar Tropfen landen am Bildschirm und der Rest landet auf meiner Couch. Lässig wischt mein Leben die Flecken mit dem Ärmel ihres Hoodies weg.
“Trauer!” Ich springe auf und drücke meine Trauer fest an mich. In dem Moment, als ich ihren warmen-holzigen Geruch einsauge, spüre ich, dass alles gut wird. Was auch immer “gut” bedeutet.
“Nicht so fest!” Meine Trauer tut nur so, als wäre ihr meine Umarmung unangenehm. Ich weiß, dass sie sich freut, dass ich sie überhaupt so fest umarme. In der Vergangenheit wollte ich sie nicht mal mit der Kneifzange anfassen.
“DANKE, dass du gekommen bist!” Ich halte meine Trauer an den Schultern und blicke ihr forschend ins Gesicht. Ihre Wangen sind eingefallen, ihre Gesichtsfarbe ist gräulich und um ihre Augen hat noch mehr Fältchen bekommen, so wie ich. Sie strömt Erschöpfung aus. “Ich habe dich vermisst!” Ich drücke sie nochmal fest an mich.
“Dein Leben kann dich also mal?” flüstert sie mir ins Ohr.
“Woher…?”
Meine Trauer hält mir das neueste iPhone Modell unter die Nase. Mein Blog Artikel ist offen und meine Trauer hat angefangen ein langes Kommentar unter dem Artikel zu schreiben. “Das kann ich dir ja jetzt selber sagen!” Meine Trauer stopft das Handy in die Hosentasche ihrer Designer Jeans. Ihrer Jogging-Anzug Phase ist offensichtlich vorbei. Im Gegenteil zu mir.
“HRM!” Mein Leben räuspert sich neben uns.
“Oh ja, richtig! Trauer, darf ich vorstellen: mein Leben!”
Meine Trauer und mein Leben mustern sich von oben bis unten. Eigentlich hätte ich jetzt erwartet, dass sie sich um den Hals fallen, eine Wiedersehens-Party schmeißen oder sich zumindest die Hand geben.
Stattdessen: Schweigen. Starren.
Seltsam.
“Tee?” frage ich. Stille auszuhalten fällt mir schwer. Ich bin irritiert, dass meine Trauer nicht ihren üblichen Wortschwall über mein Leben ergießt. Stattdessen nicken die beiden sich jetzt zu.
“Trauer.” sagt mein Leben.
“Leben.” sagt meine Trauer.
Na das kann ja heiter werden.
Ich lasse die beiden stehen und gehe in die Küche.
“So – einmal Ingwer Tee und Glückstee – Yogitee, versteht sich.” Vertraulich zwinkere ich meiner Trauer zu. Sie war live dabei, als Nur sie kennt die Geschichte, als ein spiritueller Guru in einer unserer Zeitreisen plötzlich nicht mehr virtuell in meiner alten Wohnung in der Blumenstraße gewohnt hat, sondern real. Nuria, so der Name des weiblichen Gurus, trank nur Yogi Tee. Hatte ich denn mal nicht auf Lager, mußte ich sofort auf die Yogamatte und eine Mediation aus ihrem Persönlichkeits Bootcamp absolvieren. Ich schaudere bei der Erinnerung. Gleichzeitig hat Nuria mir den Zugang zu meinen Gefühlen geöffnet und meine Trauer wurde dadurch zu einer -für mich- reallen Person. Ich stehe diesem Kapitel aus meinem Leben ambivalent gegenüber – immer noch.
Mein Leben sitzt meiner Trauer und mir gegenüber auf dem Designer Sessel. Meine sitzt neben mir auf meiner Couch. Wie in alten Zeiten. Wir nehmen alle drei gleichzeitig einen Schluck und: jap. Richtig geraten. Schweigen. Nur meine hell-blaue Coca Cola Uhr tickt leise im Hintergrund. Ich seufze leise.
Interessiert betrachtet meine Trauer die langen Papierbahnen, die mein Leben über meinen bodentiefen Fenster montiert hat.
JOB?
SCHREIBEN?
WOHNUNG?
MENTALE GESUNDHEIT?An dem Fenster, wo das Papier mit dem Wort “Partner” stand, hängt noch ein abgerissener Fetzten.
“Was stand darauf?” mit ihrem Kinn zeigt meine Trauer in Richtung Fenster.
“Partner.” antworten mein Leben und ich gleichzeitig. Unsere Tonlagen drücken allerdings völlig verschiedene Gefühle aus.
Mein Leben scheint zu sagen: “Hey! Yeigh! Falling in love is so easy!” Dabei glitzern ihre Augen begeistert.
Meine Stimmlage scheint so zu sagen: “Hell No. Lieber bleibe ich alleine, als nochmal ein fool in love zu sein.”
“Hm.” meine Trauer nimmt noch einen Schluck von ihrem Ingwertee. Ich meine, ein Schmunzeln hinter der Teetasse zu erkennen, bin aber nicht sicher. Auch mein Leben nimmt noch einen Schluck. Das Glitzern ist aus seinen Augen verschwunden.
Wieder senkt sich Stille über uns. Ich atme tief ein und aus.