Mein Leben möchte, dass ich loslasse

Mein Leben möchte, dass ich „loslasse“

Als ich meine Augen wieder öffne, wirbelt mich mein Leben immer noch herum. Wir sind jetzt wieder in meiner Wohnung in der Tierstraße gelandet. Immer diese nervigen Zeitreisen in meine Vergangenheit. Mir wird da ganz übel davon. Ich hatte schon damals meiner Trauer diese Ausflüge irgendwann verboten.

Vorsichtig setzt mein Leben mich auf dem Boden ab: “Willkommen zu Hause!” grinst es. Stöhnend halte ich mir den Kopf und plumpse erstmal auf den Boden. Mein Blick fällt auf meinen Designer-Sessel, der immer noch an seinem gewohnten Platz steht: “Wie? Was?“ Vor Freude klatsche ich in die Hände, um sie dann gleich wieder sinken zu lassen. Mir dreht sich noch alles. “Aber…?” Einen zusammenhängenden Satz krieg ich jetzt doch nicht raus. Fragend sehe ich nur mein Leben an. 

“Ach!” Es macht eine wegwerfende Bewegung: „Das war deine erste Reise mit mir, da will ich mal nicht so sein.” Ich drehe mich um und sehe einen leeren Platz in meinem Wohnzimmer. Mein “Künstlertisch”! Nur noch helle Flecken von seinen Füßen sind auf dem Parkett. Ich finde meine Sprache wieder: “Der hat es wohl nicht geschafft?” Betreten schüttelt mein Leben mit dem Kopf: “Du musst lernen auch mal loszulassen.”

Ich betrachte die 100 Buntstifte an, die nun kreuz und quer über das Parkett verteilt liegen. “Dieses scheiß Wort! Loslassen! Ich hasse es!” Fluchend krabble ich zu den Buntstiften und begutachte das bunte Schlachtfeld. Eigentlich hat meine Trauer immer für Chaos gesorgt, jetzt auch noch mein Leben? 

“Was ist denn am loslassen so schlimm?” Mein Leben kniet sich neben mich. 

Traurig um den Tisch, beginne ich die Farben zu sortieren: “Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett.” Flüstere ich dabei leise und schiebe die Buntstifte in kleine Häufchen zusammen.

“Räusper!” Mein Leben gibt mir einen sanften Stoß in die Rippen. “Krieg ich eine Antwort auf meine Frage?” 

“Ich habe nie verstanden, warum weiß keine Farbe ist.” Antworte ich ausweichend. Ich merke, wie mich ein seltsamer Sog packt, die bunten Farben vor meinen Augen verschwimmen und ich sehe nur noch weiß. Eine Erinnerung regt sich in mir. Schnell kneife ich die Augen zusammen und kralle mich an meinem Leben fest. “Es geht schon wieder los!”

“Was? Was geht los?” Mein Leben nimmt mich schnell in den Arm. Die Wärme und das Herzklopfen meines Lebens beruhigen mich. Das weiß verwandelt sich vor meinem inneren Augen zu einer weißen Tür. Traurig flüstere ich meinem Leben zu: “Ich zeige dir, warum mir das Loslassen so schwer fällt.”

“Irene. Du kannst nicht…!” Höre ich noch und ziehe mein Leben mit mir. Der Sog in meine Vergangenheit ist stärker als die Realität.

Mit einem Ruck landen mein Leben und ich hinter drei Menschen: ein kleiner Mensch, ein mittlerer Mensch und ein großer Mensch.
“Wo sind wir?” fragt mich mein Leben verwundert. Ich stehe wie festgefroren neben meinem Leben und kann kaum die Augen von dem braunen Linoleumboden heben.
“Wir sind am Tag der Weißen Tür gelandet.” flüstere ich und gehe langsam den drei Menschen hinterher.

Diese sind in großer Eile. Grüne Arztkittel und weiße Schwestern-Trachten, wehen an ihnen vorbei. Doch sie sprinten immer weiter. Das Quietschen ihrer Sneakers auf eben jenem braunen Linoleumboden verursacht mir körperliche Schmerzen. Ich nehme mein Leben an der Hand und ziehe es hinter mir her. Ich bin den Weg durch die Onkologie zu der weißen Tür in meinem Kopf schon so oft gegangen, dass ich es nicht mehr eilig habe. Ich weiß, was auf die drei Menschen hinter der Tür erwartet.

“Aber? Wie hast du das gemacht?” Mein Leben folgt mir durch das Labyrinth an weißen Gängen. “Ich habe gar nichts gemacht.” Antworte ich genervt. “Ich kann nichts dafür! Das Wort „loslassen“ triggert* mich. Sobald ich es höre, lande ich immer hier.“ Ich gestikuliere vage durch die Krankenhausflure. Weiß, so viel Weiß um uns herum. Ich schaudere innerlich und fahre dann weiter fort zu erklären: „Wir sind in meiner Nachhallerinnerung gelandet. In dieser Art von Erinnerung kehrt, wie in einem Horrorfilm, eine Szene von einem traumatischen Geschehen ständig wieder. Du wolltest doch wissen, warum ich so schlecht loslassen kann. Jetzt kann ich es dir zeigen!”

Langsam ziehe ich mein Leben weiter, vorbei an weißen Türen und durch weiße Gänge. Zum Millionsten Mal steigt mir der unvergleichbare Geruch von Desinfektionsmittel und Angst in die Nase. “Ich glaube, ich muss kotzen.” Abrupt bleibe ich unter einem Holzkreuz stehen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, das der kleiner Mensch, der mittlerer Mensch und der großer Mensch ebenfalls vor einer weißen Tür zum stehen kommen. Es ist die 16-jährige Irene mit ihren zwei Brüdern, deren Welt sich mit dem Öffnen der weißen Tür für immer verändern wird.
Ein Elefant sitzt auf meiner Brust, kein Atem geht rein noch raus. Mein Hände sind klatschnass. „Panikattacke!“ Presse ich hervor.

Mein Leben nimmt meine Hand und legt sie auf sein Herz: “Irene? Sieh mir in die Augen! Du musst Atmen. Ein und Aus.” Meine Hand spürt wieder die Wärme meines Lebens. Fasziniert, sehe ich ihr dabei zu, wie sie sich mit der Hand meines Lebens hebt und senkt. “Ein und Aus.” Mein Leben steht nun dicht vor mir. Beim Einatmen blähen sich seine Nasenflügel und sein Brustkorb hebt sich, beim Ausatmen fällt alles wieder zusammen.

“Ein und Aus.” Wiederholt mein Leben. “Sieh mir in die Augen!” Fordert mein Leben mich nochmal auf. Ich blicke auf und sehe meinem Leben in die Augen. Sie sind blau, wie die meiner Mutter. Etwas glitzert in ihnen. Tränen steigen aus den unteren Augenlidern auf und fließen dann meinem Leben über die Lieder, Wangen. Sanft wie Regen, kalter Regen auf warme Hände.

Ein paar Meter neben uns, öffnet sich jetzt die weiße Tür. Die tiefe Stimme meines Vaters mit den kehligen Untertönen, ein Überbleibsel seiner griechischen Herkunft, vibriert durch den Flur: “Jetzt verabschiedet ihr euch!” Die 16-Jährige Irene wird durch die Tür in das Zimmer gezogen. Die 43 Irene versucht wieder zu atmen.

In den Augen meines Lebens sehe ich einen Film ablaufen. So wie ich damals diese Situation erlebt habe.

Tür. 

Zimmer.

Monitore. 

Schläuche.

Bett.

Kissen. 

Mama? 

Der Krebs hatte gewonnen.

In der Mitte des Zimmers ein großer Teppich. 

Rot- weiß mit Ornamenten und Blumenmotiven.

Gelb auf weißem Kissen. Das Gesicht einer Toten.

Meine Mutter, die friedlich in ihrem Krankenhausbett liegt. Ihre blauen Augen für immer geschlossen. 

Meine Brüder, mein Vater und ich greifen die vier Ecken des Orient-Teppichs und kehren die Trauer darunter.


“Es tut mir leid.” Die Worte meines Lebens holen mich zurück in die Wirklichkeit. Zumindest wieder in den Krankenhausflur. “Es tut dir leid?” Meine Atmung hat sich wieder reguliert und ich trete einen großen Schritt weg von meinem Leben. Eine Entschuldigung von meinem Leben? Damit hätte ich ja nun nicht gerechnet. 

“Wir beide…” Mein Leben deutet zwischen sich und mir hin- und her, “… leben schon so lange mit diesem Verlust, dass ich es manchmal vergessen. Weißt du, ich will immer weiter und tendiere dazu, zu schnell unterwegs zu sein. Auch das tut mir leid.”

Ich betrachte mein Leben, wie es da vor mir steht, mit hängendem Kopf und nassen Wangen. Seine bunte Kleidung gegen das viele weiß, das uns immer noch umgibt. “Ich vergesse es auch manchmal.” Flüstere ich leise. Die Augen meines Lebens suchen meine und ich halte seinem Blick stand. “Lass uns langsam machen – ja?” Bitte ich mein Leben. Es nickt mir zu und wir umarmen uns.

“Loslassen ist ein Prozess.” Mein Leben drückt mich nochmal fest an sich und gibt mich dann frei. Wir kehren der Vergangenheit den Rücken zu und gehen langsam die weißen Flure zurück, bis zu der Eingangspforte des Krankenhauses. Die Sonne schien an diesem Tag im Mai 1996. Das gleißende, warme Licht bildet so einen scharfen Kontrast zu dem ganzen weiß in dem wir die ganze Zeit standen, dass ich die Augen schließen muss. Ich höre noch, wie mein Leben die schweren Glastüren öffnet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert