Mein Leben kann nicht lügen
Wieder zurück in meiner warmen Dachgeschoß-Wohnung, entdecke ich bestürzt, dass mein Leben umdekoriert hat. Die bodentiefe Fenster, die den Blick auf eine Grünanlage freigeben, sind mit langen Plakaten verhangen. Darauf lese ich:
JOB
SCHREIBEN
WOHNUNG
GELD
MENTALE GESUNDHEIT
PARTNER
Die Handschrift meines Lebens gleicht einem Graffiti-Künstler, der es sehr eilig hatte. Die Farben der Wörter laufen von den unteren Rändern der jeweiligen Wörtern über das Papier und ziehen Schlieren runter bis zum Boden. Immerhin hat mein Leben für jedes Wort eine andere Farbe benutzt. Dass mein Leben es gerne bunt mag, veriet mir schon seine Kleidung, als uns meine Trauer bekannt gemacht hat. Zu einer grasgrünen Hose kombiniert es einen lila Pulli, dazu einen roten Schal. Vor lauter “bunt” übergebe ich mich ein bisschen in meinen Mund.
Wortlos reiße ich das Plakat mit der Aufschrift “Partner” von einem Fenster. Hastig knülle ich es zu einem großen Ball zusammen.
“Der Altpapier Container ist voll!” ich knalle meinem Leben den Papierball an die Brust. “Entsorg das bitte!”
“Bist du jetzt sauer auf mich?” Mein Leben zieht sich eine sonnengelbe Mütze vom Kopf. “Ich dachte, du freust dich?“ Ratlos kratzt es sich am Kopf. “Die Plakate sind auch ein super Sonnenschutz. Du beschwerst dich doch immer, dass sobald die Sonne scheint, 30 Grad in deiner Wohnung sind – auch im Winter.” Vertraulich zwinkert mir mein Leben zu.
Kommentarlos öffne ich meinen Kühlschrank. Er ist leer. “Wo ist mein ganzes Essen hin?” grummle ich. Mein Leben ist mir in die Küche gefolgt, den Papierball vor die Brust gedrückt.
“Du hast doch gekocht? Den leckeren Auflauf? Wir haben gestern Abend alles aufgegessen. Erinnerst du dich nicht?”Immer dieses Erinnerst du dich nicht. Meine Trauer hat mich damit schon schier in den Wahnsinn getrieben, jetzt auch noch mein Leben.
Versteht denn keiner, wie überfordert ich mit meinem Leben bin?
Wo bitte schön soll ich denn, so mir nichts dir nichts, einen JOB herzaubern. Einer, der mir genug Zeit für das Schreiben lässt, GELD für Essen und meine WOHNUNG einbringt und gut für meine mentale Gesundheit ist?
Genervt knalle ich die Kühlschranktür zu. “DU!” deute ich auf mein Leben. “Du bist Schuld! Ich hasse dich. Ich hasse deine dummen Plakate und…” Meine Hasstirade gerät ins Stocken. Plötzlich ähnelt das Gesicht meines Lebens der Farbe ihrer Hose: grasgrün.
“Enschtuldige mich!” mein Leben hält sich die Hand vor den Mund, lässt den Papierball fallen und sprintet ins Bad. Kotz-Geräusche und die Klospülung ertönen. Leicht schwankend kehrt mein Leben zurück in die Küche.
“Irene, kannst du bitte ein bisschen netter zu mir sein? Viel, viel netter?” Mein Leben reißt sich ein Stück von der Küchenrolle ab und putzt sich den Mund ab. Ein grüner Schleim Faden hängt noch am Mundwinkel meines Lebens. Igitt!
“Wir sind doch ein Team – du und ich!”
Mein Leben hängt ihren Kopf unter den Wasserhahn in der Küche und trinkt gierig. “Schon besser.”
Verächtlich mustere ich mein Leben, wie es jetzt wieder tiefenentspannt an der Spüle lehnt. Nichts kann es aus der Ruhe bringen! Kein Kotzanfall, keine Haßtiraden! Unglaublich!
“Wir…” Ich deute zwischen meinem Leben und mir hin und her. “…sind kein Team! Meine Trauer und ich sind ein Team. Sie hat mich einfach sein lassen und hat mir nie gesagt was ich zu tun und zu lassen habe!” Wütend verschränke ich die Arme vor meiner Brust: “Deshalb habe ich meine Trauer auch gebeten zurückzukommen, damit WIR wieder ein Team sind.” Ich mag mich selber gerade nicht. Mein Ton ist eisig. Der Widerstand in mir gegen mein Leben ist Basketball groß.
Die Augen meines Lebens werden groß: “Du hast was?”
“Bist du schwer von Begriff? Ich habe doch gerade gesagt, dass…” Mein Leben hält mir, wie ein Stoppschild, die Hand vors Gesicht: “Nicht!” Es dreht mir den Rücken zu. Die Schultern meines Leben fangen an zu beben. Oh nein! Ich habe es zum Weinen gebracht! Ich mache einen Schritt auf mein Leben zu. Sanft lege ich meine Hand auf die Schultern.
“Lass mich einfach.” flüstert es leise und wischt sich die Tränen vom Gesicht.
“Okay.” Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass manche Tränen einfach geweint werden wollen. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Dass mein Leben jetzt traurig ist, wegen mir, wollte ich nun auch nicht. Und gleichzeitig nervt es mich einfach – Punkt. Nicht wissend, was ich sonst tun soll, schleppe ich mich erstmal auf meine Designer Couch. Nochmal lese ich die Wörter auf den Plakaten, die mein Leben als Sonnenschutz aufgehängt hat.
JOB
SCHREIBEN
WOHNUNG
GELD
MENTALE GESUNDHEIT
Wann fand diese Aufhäng/Umdekoriererei eigentlich statt? War mein Leben zurück in meine Wohnung geflitzt, als ich im Wald mit meiner Trauer telefoniert hatte? Oder war es nachts kreativ? Um meinen Schlaf ist es sehr schlecht bestellt im Moment. Ich liege oft nachts wach und mache mir genau um die Themen, die sich in einem leichten Luftzug hin- und her bewegen, Sorgen. Vielleicht hat sich mein Leben dadurch gestört gefühlt und musste sich anderweitig beschäftigen?
Job, Schreiben, Wohnung, Geld, mentale Gesundheit.
Hohe Anforderungen an mein Leben? An mich?
Es ist nicht so, dass ich mir um diese ganzen „hard-facts“ keine Gedanken machen würde. Deshalb ja die schlaflosen Nächte. Ich WEIß, dass ich wieder arbeiten gehen muss. Allerdings weigert sich ein Teil von mir vehement dagegen. Dieser Teil schmeißt sich, schon bei dem Gedanken an einen weiteren Brotjob, weinend auf den Boden, so wie ein Kind im Supermarkt, das einen Lolli will.
Mein Blick fällt auf das Foto meiner Mutter und meiner Oma, das auf dem Fenstersims eines der bodentiefen Fenster steht. Was soll ich nur machen? frage ich beide.
Neben mir lässt sich mein Leben auf die Couch sinken. Es folgt meinem Blick auf das Foto. Gleichzeitig entfährt uns ein Seufzer. Kurz tauschen wir einen Blick aus, dann starren wir beide wieder auf das Foto.
“Das Ding ist…” fange ich an und spüre ein Kribbeln in der Nase, das Tränen andeutet “… ich traue dir einfach nicht!” Als ich die Wahrheit ausspreche, die hinter meinem Widerstand gegen mein Leben steckt, krampft sich mein Bauch zusammen.
“Du hast mir schon einmal das Wichtigste genommen…” Ich deute auf das Bild meiner Mutter und Oma. “Kannst du mir garantieren, dass dieses Mal alles gut geht?”
Mein Leben nimmt sanft meine Hand und zieht sie zu sich auf den Schoß. Sie beginnt kleine Kreise mit ihrem Daumen über meine Handfläche zu ziehen. Eine Geste, die mein Leben sich von meiner Mutter abgeschaut haben muss, als diese noch am Leben war.
“Schau Irene…” fängt mein Leben an: “Ich könnte dir jetzt das Blaue vom Himmel herunter lügen und dir erzählen, dass A L L E S gut wird. Kein Mensch, den du liebst, wird je wieder sterben, du wirst nie wieder umziehen müssen, du wirst das ganz große Geld mit deinem Buch verdienen. Das könnte ich dir alles versprechen.” Mein Leben macht eine Pause. “Die Wahrheit ist… ” Ich schlucke schwer. Ich ahne was jetzt kommt. “Ich weiß es nicht!” beendet mein Leben den Satz.
“Ich dachte du bist allwissend!” schniefe ich zwischen meinen Tränen.
“Da verwechselst du mich mit dem da oben.” Mein Leben deutet mit seinem Kinn in Richtung Himmel Weiter zieht der Daumen meines Lebens Kreise auf meiner Handfläche. Langsam versiegen meine Tränen und ich beruhige mich wieder.
“Dem traue ich auch nicht. Warum ist Gott überhaupt ein Mann?” murmle ich leise. Mein Widerstand gibt einer großen Müdigkeit nach. Ich blinzle mehrfach, in dem Versuch meine Augenlider offen zu halten. Das letzte was ich höre sind die Worte meiner Therapeutin in meinem Ohr: Alles braucht seine Zeit. Dann schlafe ich ein.