„Es ist Sommer!“ – rufe ich meiner Trauer zu.
Schweigen.
Decke über den Kopf.
Ein stummes Umdrehen ist alles, was ich als Antwort bekomme.
„Wir könnten an die Isar!
Nein, besser: an den See!
Einfach nur lesen.
Nur in die Wolken schauen!“
Ein Schnauben unter der Bettdecke.
Dann etwas, das klingt wie: „aschobdudakönntescht.“
Ich hole ein rotes T-Shirt aus dem Schrank, dazu eine kurze Hose. Verächtlich lasse ich meine geliebten Sneakers in der Ecke stehen und krame in der blauen IKEA-Tüte, in der ich immer meine Sommersachen aus dem Keller hole, nach den Sandalen. Etwas abgetragen sehen sie aus. Ich schüttle sie – Sand rieselt auf meinen bunten Teppich.
„Ischnochauskorfu“, nuschelt meine Trauer und dreht sich auf den Rücken. Die Augen noch geschlossen, aber wie immer weiß sie genau, was gerade passiert. Sie hat mir mal erklärt, dass das ähnlich ist wie bei Delfinen – die schlafen mit einem offenen Ohr, immer bereit, ihre Umgebung abzuchecken.
Ein Kloß steckt mir im Hals, plötzlich. Meine Augen werden feucht. Ich blinzele ein paar Mal, bis ich wieder klar sehe, und lasse mich ans Fußende meines Betts fallen. Mit einem Mal fühle ich mich wieder so schwer wie damals auf Korfu – eine Woche nach dem Tod meines Vaters.
„Was soll ich jetzt mit meinem Urlaub machen?“ hatte ich meinen Bruder am Telefon gefragt.
Die Nachricht vom Tod meines Vaters hatte mich auf dem Weg zur Arbeit erwischt. Ich lag einfach vor der Eingangstür, als hätte mich jemand umgehauen.
„Du rufst jetzt in der Arbeit an und meldest dich krank. Und dann kommst du her, wenn du magst, verabschiedest dich von Papa – und dann schaust du weiter“, hatte mein Bruder gesagt.
Ich flog nach Korfu – blind, taub vor Schmerz. Meine Trauer hatte sich heimlich wieder in meinen Rucksack geschlichen und wog schwer, als hätte sie die ganze Bäckerei leer gefressen, bei der ich jeden Morgen mein Frühstück kaufte.
Das Schlimmste: Die Beerdigung stand mir noch bevor.
Und so schleppte ich mich in pinken Wandersandalen durch die Olivenhaine – zur besten Yogalehrerin der Welt.
„Nein!“ Hastig springe ich vom Bett auf. „Ich lasse mir von dir nicht auch noch den Sommer verderben!“
Ich stolpere – entweder über das Ende meines Teppichs oder über diesen Entschluss, der gerade laut ausgesprochen wurde und sich noch ganz schön wackelig anfühlt.
„Duweischt …“
Gar nichts weiß ich. Ich schließe die Tür hinter mir. Plötzlich bin ich sauer. Nein, falsch – ich bin stinksauer auf meine Trauer.
Ich zünde mir am offenen Küchenfenster eine Zigarette an und puste den Ärger in die warme Morgenluft. Mein Blick fällt auf die Kirchturmuhr.
Neun Monate ist Papa nun schon tot.
Und es tut immer noch weh. Immer wieder.
Die Uhr vor meinen Augen beginnt zu verschwimmen. Ich denke an das Gespräch mit meiner Tante – der Schwester meiner Mutter. Sie hatte mir versichert, dass meine Mutter früher ein Ehrenamt in der Bücherei meines alten Viertels hatte.
Ich habe keine einzige Erinnerung daran.
Der Kirchturm vor mir löst sich in ein Gemisch aus Beige, Grün und Braun auf.
„Verdammt!“
Die Zigarette hat mir die Finger verbrannt. Hastig drücke ich sie in das Altglas, das ich zum Aschenbecher umfunktioniert habe.
„Hey? Alles okay?“
Meine Trauer steht plötzlich in der Tür. Das Gewicht ihres Körpers trägt noch die Spuren meines Kissens. Meine rosa geblümte Bettdecke hat sie sich um die Schultern geworfen – sie schleift über den Boden. Ihre Haare stehen ab wie bei einem Igel. Ich muss mir ein Lächeln verkneifen.
„Du verdirbst mir nicht den Sommer!“
Mit dem Rücken zu ihr reiße ich die Kühlschranktür auf und kühle meine Tränen mit der Suche nach der Milch.
Ein leises Klicken – die Küchentür fällt zu.
Meine Trauer ist verschwunden.
Was ist jetzt los?
Meine Trauer hat sich noch nie einem verbalen Schlagabtausch entzogen.
Neugierig öffne ich die Tür, linse ins Schlafzimmer – leer.
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ist sie etwa …?
Hat sie mich wieder?
Mein Blick fällt zur Eingangstür – nein, die Kette hängt noch genauso im Schloss wie gestern Abend.
Es rumpelt im Bad.
Meine Trauer kommt heraus, wirft mir einen kurzen Blick zu und schlurft Richtung Couch. Haare immer noch wie ein Igel, Bettdecke immer noch um die Schultern.
Hat sie eigentlich was drunter?
Brrr. Manche Dinge will man gar nicht so genau wissen. Ich schüttele mich.
Neugierig folge ich ihr ins Wohnzimmer.
Kein Kampf?
Keine morgendliche Schönheitsroutine?
Nur schlurfende Schritte?
Ganz ungewohnt für meine Trauer.
Ein leises Stöhnen.
„Trauer? Was ist los? Bist du krank?“
Besorgt lasse ich mich neben sie auf unseren Stammplatz plumpsen. Ich fasse ihr an die Stirn – sie dreht das Gesicht weg.
Ich muss sagen: Sie müffelt ein bisschen.
„Ich bin es so leid“, flüstert sie.
Dabei sieht sie mich nicht an, sondern starrt auf die Blätter meines Oleanders, die jede Woche aufs Parkett fallen, als wollte er sagen: Ich bin auch noch da.
„Was denn?“
„Schau, Irene. Ich bin vor drei Jahren bei dir eingezogen, weil ich dachte, du wärst bereit.“
Ein kurzer Blick von unten – dann wieder zu den Oleanderblättern.
Bereit … wofür?
„Für unsere Freundschaft.“
Sie spricht leise, kaum hörbar. Normalerweise klingt sie wie eine Nachrichtensprecherin.
„Bin ich doch!“
In dem Moment, in dem ich es laut ausspreche, spüre ich: Das ist nur die halbe Wahrheit.
„Bist du nicht.“
Sie seufzt. „Wir waren auf Bali, ich hab dich vor dem Suizid bewahrt. Wir waren mit Delfinen schwimmen … Ich war immer bei dir, für dich da.
Und ja, ja – ich weiß.“
Beschwichtigend hebt sie die Hände.
„Dir ist das Reisen nicht mehr so wichtig wie früher, als du es als Flucht vor mir benutzt hast. Und ja, ich weiß, dass du durch mich deine Gefühle entdeckt hast. Aber eine Sache hast du immer noch nicht verstanden.“
Jetzt wird es ernst. Ich spüre es.
„Ja? Was denn?“, frage ich ungeduldig.
„Ich werde dich bis zu deinem Lebensende begleiten.“
Sie sagt es ruhig. Klar. So wie immer.
„Auch wenn draußen die Sonne scheint. Wetter ist mir egal.“
„Ich hab aber keinen Bock auf diese Summertime Sadness.“
Ich verschränke die Arme.
„Bock oder nicht Bock.“
Sie zuckt mit den Schultern.
„Es ist, wie es ist.“
„Und was ist mit meinen ganzen Plänen? Isar? See?“
„Kannst du alles machen! Aber ich bin immer mit dabei.“
Ich rolle mit den Augen. Genervt.
„Ich verspreche dir, dass ich nicht jeden Tag so schweres Gepäck sein werde. Aber dabei bin ich.“
Jetzt verschränkt auch sie die Arme.
Ich atme tief ein. Durch die Nase. Und langsam wieder aus.
Irgendetwas in mir verschiebt sich. Die Blockade, die ich gegen meine Trauer errichtet hatte, beginnt sich zu lösen.
Ich fühle mich leichter.
„Bis zum Lebensende?“
Ich strecke ihr die Hand hin.
„Deal?“
„Deal.“
Wir schütteln uns die Hände.
Zum ersten Mal an diesem Morgen blickt meine Trauer mir in die Augen.
So klar wie ein Bergsee. Kein Argwohn. Kein Trotz. Nur Stille.
Ich glaube, ich kann meiner Trauer vertrauen.
So unsicher mein Leben sich auch anfühlen mag – eines ist sicher:
Meine Trauer bleibt.
Als mein Freund.
Unsere Verbindung wird sich verändern – mal wohnt sie neben mir auf der Couch, mal schläft sie in ihrem Mansardenzimmer an der Uni für Trauer – Handy lautlos, aber immer griffbereit.