Vertrauen, Verzauberung – und ein Sprung ins Unbekannte

„Naaaaaa? Schon Delfine gesehen?“
Im Hintergrund höre ich es leise rauschen.

„D E L F I N E?“
frage ich.
Eine Welle bringt das Schiff zum Schaukeln,
ich stemme die Füße gegen die leicht feuchten Planken unter mir.
Mir wird schlecht.

„Du wolltest unbedingt diesen Trip machen.
Schwimmen mit Delfinen, erinnerst du dich nicht?“

Ich schüttle den Kopf –
was meine Trauer am anderen Ende der Leitung natürlich nicht sehen kann.

Ich brauche meine ganze Kraft,
um nicht auf die zugegeben sehr schönen Holzplanken zu kotzen.
Außerdem hat mich der Tintenfleck meiner Angst immer noch im Griff.

„Ich … habe … solche Angst!“
stammele ich ins Telefon.

„Ja, das wussten wir bei der Buchung der Reise deines Lebens schon.
Das ist völlig okay.
Ich habe dir Tabletten gegen Reiseübelkeit in deinen Rucksack gepackt.
Nimm zwei – und atme, Irene! Du musst atmen!“

Ich klemme das Handy unter meinen schiefgelegten Kopf,
löse die Hand vom Tisch
und öffne den Reißverschluss meines Rucksacks.

Ganz unten, zwischen meiner schwarzen Softshelljacke,
meinem ausgebeulten Notizbuch
und meiner rosa Wasserflasche,
finde ich tatsächlich eine Packung Reisetabletten.

Hastig reiße ich die Verpackung auf,
lege zwei blaue Kapseln auf den Tisch,
trinke gierig einen Schluck Wasser –
es schmeckt nach Plastik –
und schlucke die Tabletten herunter.

Ich atme tief durch.

Was zur Hölle ist hier los?

Meine Aufmerksamkeit geht zurück zu meiner Trauer,
die am Telefon munter plappert:

„… Rauchen und atmen ist natürlich eine spannende Kombination.
Ich weiß ja, dass du am Rauchen hängst und dir manchmal einbildest,
dass der Rauch dich vor fremden Energien schützt.
Aber Fakt ist: Rauchen tötet. Wusstest du übrigens …“

„Trauer!“
unterbreche ich sie.

Einen Vortrag über das Rauchen kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.

„Was ist hier los? Wo bin ich? Und wo bist du?“

„Griechenland, Irene, Griechenland!
Dass du das nicht sofort erkennst!
Du bist auf einem Schiff, weil du mit Delfinen schwimmen wolltest.
Ich bin am Strand, schlürfe Cocktails und bediene mich am Buffet.
Mich sieht ja keiner.“

Ein wieherndes Lachen meiner Trauer lässt mich das Handy vom Ohr wegziehen.

„Aber warum?“

„Wir hatten das doch besprochen.
Das ist der Bonus der Trauer-Uni!
Erinnerst du dich nicht?“

Ihre Stimme klingt,
als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen –
unterschwellig ungeduldig und auffällig süß.

„Nein! Ich erinnere mich nicht!
Wie komme ich hierher?“

„Magie, Irene!“

„Ich scheiß auf die Magie! Hol mich hier weg!“

„Willst du nicht die Delfine sehen?“

„Delfine, Delfine!“
ertönt es von irgendwo auf dem Schiff.

„Ich will keine Delfine sehen!
Mir ist kotzschlecht,
und ich will sofort nach Hause!“

„Miss Irene?“
Ein Wuschelkopf erscheint auf der Treppe,
die das untere mit dem oberen Deck verbindet.

Schokoladenbraune Augen,
eingebettet in das Gesicht eines griechischen Gottes,
blicken suchend umher –
und leuchten auf, als sie mich entdecken.

„Äh, hier ist ein Typ!“,
flüstere ich ins Telefon.

Der Grieche – Adonis? Zeus? Hermes? –
kommt mit sicheren Schritten auf mich zu.
Sein halber Neoprenanzug passt perfekt,
und darunter zeichnet sich ein Sixpack ab.
Mein Mund wird trocken.

„Das ist Dimitri. Du kannst ihm vertrauen.
Er hat dir den Trick mit der Boje gezeigt. Erinnerst du dich nicht?“

Wie oft soll ich meiner Trauer noch sagen,
dass ich mich NICHT erinnere?

„Die Delfine sind jetzt da. Kommst du?“
fragt Dimitri.

Ich erkenne an seiner kehligen Aussprache,
dass er Grieche ist.
Wer wie ich mit diesem Akzent aufgewachsen ist,
hört das sofort.

„Nein, verdammt.
Ich erinnere mich an gar nichts.“

flüstere ich meiner Trauer zu
und grinse Dimitri künstlich an.

„Das ist aber seltsam …“

Er steht jetzt direkt vor mir,
streckt mir die Hand entgegen.
Seine blauen Augen blitzen.

„Now or never!“

„Ich muss jetzt auflegen.“

Zu meiner eigenen Überraschung
drücke ich die Trauer einfach weg,
stopfe mein Handy zurück in den Rucksack
und stehe auf.

Ich halte mich am kleinen Tisch fest,
aber nicht mehr so krampfhaft wie zuvor.
Die Tabletten wirken Wunder –
meine Übelkeit ist weg.

Der schwarze Tintenfleck auf meinem Herzen
beginnt, sich wie eine Qualle zu bewegen.

Ein neues Gefühl fordert seinen Platz:
Vertrauen.

Ein wunderschönes Königinnenblau breitet sich aus
und gesellt sich zu meinem Da-Glü-LeBEr-E-Scha-Gebor.
Jetzt also:
Da-Glü-LeBEr-E-Scha-Gebor-Ver.

Bei Gelegenheit sollte ich das mal sortieren,
denke ich noch
und greife Dimitris ausgestreckte Hand.

Ich kann ihm vertrauen,
sagt mein Instinkt.
Und vor allem –
wow! –
ich kann mir vertrauen.

„Du folgst mir einfach – okay?“
sagt Dimitri.

Unter einer pinken Schnorchelmaske –
Ton-in-Ton ist ein Muss –
mit Flossen an den Füßen
komme ich mir reichlich dämlich vor.
Aber Dimitri sieht genauso albern aus.

Mein Herz wummert vor Aufregung.

Platsch.
Dimitri landet elegant im Wasser.

Ich nehme lieber die kleine Treppe neben dem stillstehenden Motor,
die hinab in die unendlichen Blautöne der Ägäis führt.

Stufe für Stufe steige ich ins Wasser,
gar nicht so einfach mit Flossen an den Füßen.

Dimitri paddelt locker auf der Stelle,
grinst aufmunternd.

Das Wasser umfängt mich –
kalt und weit.
Trotz Neoprenanzug fröstelt es mich.

„Hier lang!“
ruft Dimitri,
setzt sich seine Maske auf
und taucht unter.

Ich atme tief durch den Schnorchel ein
und folge ihm.

In dem Moment, in dem mein Kopf unter Wasser taucht,
wird es ruhig.

Alle Fragen verschwinden.
Was bleibt, ist mein Herzschlag,
mein lauter Atem im Schnorchel
und das sanfte Gluckern der Strömung.

Vor mir tanzen Lichtstrahlen durch das Wasser.
Alles ist still.
Alles ist weit.

Dimitri winkt mich zu sich.
Ich schwimme näher.

Aus den schwarzen Tiefen des Meeres
taucht ein Schatten auf.
Eine Gänsehaut läuft über meinen Körper.

Der Schatten kommt näher –
und dann sehe ich ihn:
einen Delfin!

Silbergraue Haut,
ein breites Grinsen.
Nur eine Armlänge entfernt.

Freudentränen steigen mir in die Augen.

Mein Herz macht Platz für etwas,
das ich noch nie zuvor gefühlt habe:
Verzauberung.

Lila.
Da-Glü-LeBEr-E-Scha-Gebor-Vertra-Verzaub.

Mein Grau aus dem Unten
ist nur noch ein dünner Strich am Rand meines Herzens.

Noch fünf weitere Delfine gleiten an uns vorbei.
Sie begrüßen uns in ihrer Unterwasserwelt –
und verschwinden wieder im Blau.

Prustend tauche ich auf.
Paddle auf der Stelle.

„Wie krass geil war das denn bitte!“
rufe ich in die leuchtenden Blautöne über mir.*

Ende der Reihe „Was ich durch meine Trauer fühlen lernte“.
Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Gespräche mit meiner Trauer“.

Danke fürs Lesen und fürs mit fühlen. Deine Irene

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