Vertrauen ist, nicht zu springen.

Trigger-Warnung zum Thema Suizid.

„Oooookay?“
Meine Trauer zieht die Augenbrauen fragend nach oben.
„Ich hoffe, du weißt, dass du mir vertrauen kannst.“

Ich weiß, Trauer. Gib mir noch ein bisschen Zeit, bis ich dir diese Geschichte erzähle,
flehe ich sie innerlich an,
sage es aber nicht.
Ich habe keine Lust auf eine Diskussion.

Jetzt wäre eigentlich ein guter Zeitpunkt für ihre telepathischen Fähigkeiten –
aber die hatte ich ihr ja beim Einzug verboten.
Und zu meinem Erstaunen hält sie sich tatsächlich dran.

Ich vertraue. Ich vertraue. Ich vertraue, verdammt noch mal!

„Dann lass uns gucken, wie es weitergeht.“
Der Bildschirm zeigt mich an der offenen Balkontür stehen –
eine Zigarette in der Hand.


„Eines Nachts hatte ich ganz fürchterliche Gedanken.“
Meine Trauer sieht mich fragend an.

„Ja, sorry, ein Zombie schläft nicht!“
Ich schlage die Hände vors Gesicht.
Auf dem Bildschirm ziehe ich noch einmal an meiner Zigarette.

„Wenn ich jetzt springe, ist alles vorbei.“

Meine Trauer zieht mir die Hände vom Gesicht,
damit ich weitersehen kann.
Sie ist ganz aufgeregt.

„Jetzt kommt mein großer Auftritt!“

„Das warst du?“

„Natürlich.“
Mit stolzgeschwellter Brust sieht sie mich an.

„Ich habe dich aber gar nicht gesehen.“

„Ich war unsichtbar. Das hatten wir doch schon.“


Die Zombie-Irene auf dem Bildschirm zieht noch einmal an ihrer Zigarette.
Dann spricht sie laut den Satz aus,
den – wie ich heute weiß – meine Trauer ihr damals ins Ohr geflüstert hat:

„Wenn du vom zweiten Stock springst, brichst du dir höchstens ein Bein. Geh lieber wieder ins Bett.“

Zombie-Irene gehorcht.
Sie drückt die Zigarette aus
und geht schlafen.


„Am nächsten Morgen“, fahre ich fort,
„kontaktiere ich meinen Pferdetherapeuten mit der dringenden Bitte um ein Gespräch.“

Seit meinem Burn-out nach der Trennung von Dan arbeite ich mit ihm zusammen.
Mal wirklich am Pferd, mal nicht.
Aber immer sitzen wir in der Stube eines Reiterhofs und trinken Tee.
Er erzählt Reisegeschichten mit doppeltem Boden –
das gefällt mir.

Meine Selbstmordgedanken,
das Ultimatum, das mir Mr. Right stellte –
ich war völlig überfordert
und brauchte dringend jemanden zum Reden.


Herr Pröttel – mein Pferdetherapeut –
und Zombie-Irene sitzen im Garten meines Elternhauses.
Ausnahmsweise, wie er betont.
Er kam nach meinem Notruf – E-Mail, Anruf, was auch immer –
zu mir. Ebenfalls ausnahmsweise.

Wir sitzen an der hölzernen Eckbank,
die früher mal Sammelplatz meiner Familie war.
Um uns herum blühen die Rosen meiner Mutter.
Der Apfelbaum in der Mitte des Gartens trägt bereits kleine Früchte.

Herr Pröttel nimmt sich einen Stuhl
und setzt sich in die Sonne.
Ich bleibe im Schatten –
fröstelnd.


Ich versuche, seine Stimme zu imitieren:
„Ich bin also hier, um Sie aus dem Schatten ins Licht zu holen.“
Die Irene im Film nickt.
Herr Pröttel beginnt zu sprechen.


„Ich weiß nicht mal mehr,
ob ich ihm von meinen Selbstmordgedanken erzählt habe.“

Ich stehe auf
und blicke aus dem Wohnzimmerfenster auf die graue Straße.
Ein Hundebesitzer stemmt sich gegen den Regen,
seinen Dackel zieht er hinter sich her.
Ich kenne sein Ziel –
ich gehe dieselbe Runde.
Täglich.
Manchmal kreuzen sich unsere Wege.

„Ich war so verloren damals.“
Ich drehe mich zu meiner Trauer
und setze mich wieder zu ihr auf die Couch.

„Ich habe einfach keinen Ausweg aus meinem Zombie-Sein gesehen.“


Die Trauer zeigt auf den Teppich-Bildschirm.
Ich sitze dort – wie ein Häufchen Elend –
vor meiner Hausärztin.

Das rote Rezept für Antidepressiva reiche ich später
verschämt einer Apotheken-Mitarbeiterin.

„Ich verstand vom Kopf her einfach nicht,
was mit mir los war.
Hätte ich ein gebrochenes Bein gehabt,
wäre mein Depressions-Parasit wenigstens als Gips sichtbar gewesen.
Für mich.
Für andere.
Dann hätte ich es vielleicht verstanden.
Aber eine gebrochene Seele …?“


Plötzlich lösen sich Tränen aus meinen Augen.
Lang unterdrückte Scham bricht sich ihren Weg.

Meine Trauer legt tröstend den Arm um mich.

„Depressionen sind tabu in unserer Gesellschaft.
Die simuliert doch nur.
Die ist zu faul zum Arbeiten –
das ist es, was die Leute denken!“

Meine Trauer holt mir ein Stück Küchenrolle.
Ich tröte geräuschvoll hinein –
überrascht von der Wucht dieser aufgestauten Emotionen.

Der Bildschirm zeigt jetzt ein Standbild.
Bunt.
Stumm.*

✨ Teil 8 aus der Mai-Reihe
„Was ich durch meine Trauer fühlen lernte“.
*Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Gespräche mit meiner Trauer“.

Nächster Teil: Lebendigkeit.

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🕊 Hinweis bei emotionalen Krisen oder Suizidgedanken:
Wenn du gerade dunkle Gedanken hast oder das Gefühl, nicht mehr weiterzuwissen:
Du bist nicht allein. Und du musst das nicht alleine aushalten.

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr für dich da – anonym, kostenfrei und mit offenen Ohren:
📞 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222
🌐 www.telefonseelsorge.de (auch per Chat oder Mail)

In akuten Notfällen wähle bitte den Notruf: 112
Oder den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter: 116 117

Es ist mutig, Hilfe anzunehmen.
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