Meine Trauer wusste, wie Erleichterung geht – ich musste nur zuhören
„Trauer?“
Ich versuche, meine Füße zu heben – es geht nicht.
„Keine Ahnung.“
Meine Trauer betrachtet mich nachdenklich.
Halt suchend greife ich nach ihrem Arm.
„Was ist das?“
Ihr Blick fällt auf mein Handgelenk – der einzige freie Punkt auf meinem Arm ist der kleine silberne Stern, den ich aus dem Surfcamp-Zimmer mitgebracht habe.
„Ein Mitbringsel aus Bali! Jetzt hilf mir doch mal!“
Ich spucke das Pulver aus und ruckle mit den Füßen hin und her.
Nichts.
Im Gegenteil – ich habe das Gefühl, mich noch tiefer einzugraben.
„Lass mal sehen.“
Meine Trauer nimmt meine Hand, betrachtet aufmerksam den Anhänger an seinem blauen Stoffband.
„Das erklärt so einiges.“
Sie lässt meine Hand los und starrt gedankenverloren auf den Haufen, der mich mitten in meinem Flur festhält.
„Was? Was erklärt das?“
„Du hast etwas aus der Vergangenheit mitgebracht.“
Meine Trauer beginnt jetzt, mich zu umkreisen – wie Sherlock Holmes.
„Also pass auf, Irene. Erstens: Du warst alleine auf Bali, weil du es immer so verdammt eilig hast.
Deshalb war das Zauberwort ja auch Pelan-pelan!“
„Was langsam – langsam auf Indonesisch heißt. Das weiß ich doch inzwischen …“
unterbreche ich sie ungeduldig.
Hätte ich mal besser den Mund gehalten. Das Pulver oder was auch immer es ist, rutscht jetzt von meinem Gesicht wieder in meinen Mund.
„PF!“
„Zweitens: Du hattest keinen Bali belly. Das war ich.“
„Du hast dich in meinen Darm eingenistet?!“
Meine Trauer nickt bedächtig.
„Drittens: Ich hatte dir extra die Nachricht über deinen Lieblingsfilm zukommen lassen,
dass du nichts in der Vergangenheit verändern darfst.
Du hast dich nicht an die Regel gehalten.
Und jetzt haben wir den Zement!“
Sie lächelt zufrieden – als sei alles ganz einfach.
„Ich wollte doch nur etwas mitnehmen, das mich an den Mut erinnert, den mich die Reise damals gekostet hat.“
„Das war ja auch der Grund, warum du nach Bali zurückmusstest – damit du nochmal sehen kannst, wie mutig du warst. Nicht, um etwas aus der Erinnerung zu klauen.“
„Tut mir leid, okay?“
Ich verschränke die Arme vor der Brust – egal, wie viel Zementpulver dabei aus mir herausrieselt.
„Woher soll ich denn das alles wissen?“
„Ich hätte es dir erklärt …
wenn du nicht immer so schrecklich eilig wärst.“
Inzwischen stecke ich bis zur Hüfte im Zement.
„Wie komme ich hier wieder raus?“
Jetzt bekommt meine Trauer diesen Blick – den, der immer etwas ankündigt, das mir garantiert nicht gefallen wird.
„Fluten!“
Ihre Augen leuchten.
„Mein Vermieter bringt mich um, wenn ich hier Wasser auf dem Parkett verteile!“
Ich will meiner Trauer einen Vogel zeigen, doch der kleine Pulverberg ist inzwischen so hoch,
dass meine Arme seitlich an meine Hüfte gedrückt werden.
„Ich dachte, du hättest einen Plan für alles?“
„Dies hier ist ein Ausnahmefall.“
Sie setzt sich neben mich.
„Lass uns mal folgendes probieren:
Wie ging es nach der Trennung mit Dan weiter?“
„Ich habe einfach weitergemacht.
Als wäre nichts gewesen.
Ich habe alle Gefühle runtergeschluckt.
Ein Burn-out war die Folge.
Ich kündigte meinen Job,
fing gleich einen neuen an.
Ich sprang in die nächste Beziehung –
nur, um weiterzumachen.
Aber das weißt du doch alles!“
Genervt hebe ich die Augenbrauen – und lasse sie wieder sinken.
Es rieselt weiter.
„Und weiter?“
Meine Trauer beginnt nun, mit dem Pulver kleine Häufchen zu formen.
„Ich habe einen Pferdetherapeuten aufgesucht. Der hat mir geholfen, aus dem Burn-out wieder rauszukommen.“
In dem Moment, in dem ich das ausspreche,
spüre ich, dass das Pulver aufhört zu rieseln.
„Ich glaube, das war’s!“
Meine Trauer klatscht in die Hände.
Eine gigantische Staubwolke erhebt sich – feiner Zementpulver-Regen bedeckt Möbel, Lampen, Bilderrahmen.
„Du hast diese Geschichte so lange mit dir rumgetragen. Auf die eine oder andere Weise musste sie raus.“
„Großartig!“
Ich rolle mit den Augen.
„Mir wäre jede andere Art und Weise lieber gewesen.
Was machen wir jetzt mit dem ganzen Zeug?“
Mein Flur sieht aus wie nach einem Volleyball-Match.
Mit Zement.
„Ich habe da eine Idee.“
Meine Trauer steht auf, greift nach Handfeger und Kehrschaufel im Flurschrank.
„Ich glaube, dieses Pulver ist wichtig – sonst wäre es nicht aufgetaucht.“
Sie beginnt, das Pulver um meine Knie herum zusammenzukehren, geht, kommt zurück.
„Das muss in den Sondermüll.“
„Oh nein!
Ich habe keinen Bock auf Ärger mit der Nachbarin,
die immer den Müll durchsucht …“
„Sondermüll? Ich lagere das erst mal.“
Schon trägt sie eine weitere Kehrschaufel Zementpulver aus meinem Sichtfeld.
„Äh – und wo, bitte?“
Inzwischen kann ich immerhin wieder meine Arme bewegen.
„In der Badewanne.“
„Spinnst du? Was ist, wenn ich baden will?“
„Hast du überhaupt schon ein einziges Mal in dieser Wanne gelegen?“
Sie sieht mich ernst an.
„Äh … nein.“
Ich beschließe, ihr zu helfen – das dauert sonst ewig.
Gemeinsam schaufeln wir Zement. Ich reiche ihr das Pulver, sie leert es in die Kehrschaufel.
„Weißt du nicht, dass nasser Zement steinhart wird?“
Ein Augenrollen von ihr beendet die Diskussion.
Sie läuft unzählige Male zwischen Flur und Bad hin und her, bis ich mich endlich wieder frei bewegen kann.
Ich strecke ihr meine Hand hin.
„Danke!“
„Dafür nicht.“
Wir betrachten gemeinsam die pulvrigen Fußspuren – sie zeigen meinen Weg vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer
und in den Flur.
Meine Kaschmirdecke liegt in der Ecke – grau, eingestaubt.
„Die Wanne ist jetzt voll“, bemerkt meine Trauer trocken.
„Kann ich den Rest bitte einfach wegsaugen?“
„Okay.“
Sie zuckt mit den Schultern und verschwindet ins Bad.
Ich stöpsle den Staubsauger an und mache mich ans Werk.*
Teil 4 aus der Mai 2025-Reihe „Was ich durch meine Trauer fühlen lernte“.
Nächster Teil: Vertrauen.
*Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Gespräche mit meiner Trauer“
Folge mir auch gerne auf Instagram unter @irene_kasapis. Danke.