Zwischen Zinkpaste und Papayasaft: Die Rückkehr der Freude
„Transport! Transport!“
Neben mir hupt plötzlich ein blaues Taxi. Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch und nehme zum ersten Mal bewusst meine Umgebung wahr. Auf unzählige kleine Souvenirshops folgen Restaurants, Massagestudios, Mini-Supermärkte und Hotels. Ein Bienenschwarm von Scootern rast an mir vorbei. Es ist laut. Mein Lycra klebt vor Schweiß an meinem Oberkörper, und die Luft scheint vor Abgasen nur so zu flimmern.
„Transport! Transport!“
Wieder hupt der neben mir langsam gewordene Taxifahrer. Ich huste und winke ab. Kein Interesse.
In mir regt sich eine verwirrende Unstimmigkeit – zwischen dem leisen Nachhall der Begeisterung, die meine dreißigjährige Irene in all dem Trubel auf Bali empfunden hatte, und der Gewissheit der 42-jährigen Irene, dass sie am falschen Ort ist.
Sogar im falschen Jahr.
Ich bekomme plötzlich keine Luft mehr. Mein Magen rumort ominös. Ich beschleunige meine Schritte – und laufe beinahe gegen ein großes Straßenschild:
PELAN – PELAN
(SLOWLY – SLOWLY)
Was hatte meine Trauer vorhin gesagt? Ich hätte es immer so eilig.
Vielleicht sollte ich wirklich mal langsam machen und schauen, was dieser Tag noch mit sich bringt.
Vielleicht finde ich den Mut auch alleine.
Ich atme tief durch – und muss gleich wieder husten.
Waren die Abgase damals auch schon so ätzend?
Grübelnd gehe ich weiter.
Mein Surfbrett schleift mittlerweile hinter mir über den Asphalt – was, wenn ich mich recht erinnere, eine Art Kardinalsünde unter den Surfern ist. Ist mir jetzt auch egal.
Soll sich mein zehn Jahre jüngeres Ich darum kümmern, wenn ich wieder weg bin.
Ich brauche jetzt erstmal Ruhe,
um meine Gedanken –
und mich – zu sortieren.
Ein Lichtstrahl blendet mich.
Ein heller, scharfer Reflex brennt in meinen Augen.
Ein paar Meter vor mir läuft jemand in Boardshorts, T-Shirt und Flip-Flops.
Nichts Ungewöhnliches hier.
Doch an seinem Handgelenk trägt er eine Uhr – und die Sonne spiegelt sich auf dem Zifferblatt.
Die Art, wie sich die Person bewegt, fühlt sich vertraut an.
Das ist doch … Dan!
Reflexartig will ich schon die Hand heben – doch genau in diesem Moment bremst einer dieser Minivans mit quietschenden Reifen direkt neben mir.
Die Türen fliegen auf.
Stark gebräunte, muskulöse Körper poltern heraus.
Weiße Zinknasen, breites Lachen, High-Fives.
Ein Gemisch aus Englisch, Schweizerdeutsch und Deutsch füllt die Luft.
„Na, Irenchen? Wie war die Session heute?“
Max steht vor mir. Ich erkenne ihn sofort. Wir sind noch über Facebook in Kontakt.
Ich erinnere mich: Max, der Sunnyboy aus dem Surfcamp.
Damals zehn Jahre jünger, noch kein Familienvater, aber total stoked vom Surfurlaub der Fortgeschrittenen –
den Bad Boys, die um drei oder vier Uhr morgens aufstanden, um die besten Wellen zu reiten.
Bali war für sie: Wellen. Bett. Clubs. Wieder Wellen.
Die Insel selbst? Randnotiz.
Ich fand das damals irritierend.
Heute kann ich es verstehen.
Mein Leben, vor dem Einzug meiner Trauer, war auch eher einseitig.
„Ich muss …“
Ich versuche, Max zur Seite zu schieben, aber sein Kumpel Thomas legt spielerisch den Arm um meine Schultern. Max schnappt sich mein Surfbrett, und zusammen ziehen sie mich die letzten Meter zurück ins Camp.
„Unser Trip war heute wieder so krass. Die Wellen waren fünf Meter hoch! Wahnsinn!“
Max quasselt, als hätte er meine Trauer persönlich getroffen.
Ich versuche noch, einen letzten Blick auf Dan zu erhaschen. Seine Uhr blitzt, dann verschwindet sein gelbes T-Shirt um die Ecke der Jalan Camplung.
Heute Abend werde ich Dan wiedersehen – äh … zum ersten Mal sehen, meine ich.
Diese überkreuzten Zeitlinien und meine völlig konträren Gefühle zwischen jetzt und damals verwirren mich.
„Scheiße!“, entfährt es mir.
„Macht nichts, morgen wird es besser.“
Max legt unsere beiden Surfbretter ab und paddelt in der Luft.
„Du musst nur pushen – so und so!“
Max hat sich selbst nie zu ernst genommen. Das hat mich schon damals zum Lachen gebracht.
Und auch jetzt. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich aus vollem Herzen lache.
In meinem Unten haben diese Muskeln bisher nur geweint.
Nachdem ich mich in der spiegellosen Camp-Toilette erleichtert habe, rufen Max und Thomas mich zum Frühstück. Mein Magen knurrt. Vielleicht ist es tatsächlich Hunger. Oder habe ich einen Bali belle? Ich folge ihrer Einladung.
Vielleicht finde ich ja raus,
was hier läuft,
wenn ich einfach das tue,
was ich damals getan habe.
In mich gehen verschiebe ich auf später – und setze mich an den langen Community-Tisch neben dem Pool.
Max und Thomas reden noch immer über ihren „krassen“ Morgen. Ich erzähle lieber von meinem Wipe-out,
statt ihnen zu sagen, dass ich mich eigentlich im falschen Jahr befinde und zurzeit träume.
„Krass! Das müssen wir feiern! Partey!“
Max hebt seinen Papayasaft,
ich stoße mit ihm an.
„Partey!“ – ich lache.
So ungefähr war das auch die letzte Party, auf der ich je war.
Meine Begeisterung für Partys ist mit der Zeit verschwunden –
wie auch meine Freundschaft zu Max und Thomas.
Im Gegensatz zu dem Moment, als meine Trauer vor der Tür stand und ich nicht wusste, was passieren würde, wenn ich sie reinließ – weiß ich jetzt ganz genau, wie dieser Abend verlaufen wird.
Mein Herz hüpft vor Aufregung.
Ein Reflex, der sich bei Dan nie verloren hat.
Diese Nacht – unser Kennenlernen – gleicht einer romantischen Komödie: Ein Blick – es war alles gesagt. Ein Kuss – es war alles klar. Strömender tropischer Regen. Hach!
Verdammter Magen!
Wann hört das endlich auf?
„Party? I know good place. Secret Club!“
Meine Gedanken werden durch Claudia und Jack unterbrochen. Sie setzen sich zu uns. Jack senkt verschwörerisch die Stimme – und mir fällt in diesem Moment wieder die Pointe des Witzes ein.
„My bed!“
rufen wir alle im Chor.
Lachend prosten wir uns zu.
In mir spüre ich ein leises Sehnen –
nach dieser Lebendigkeit,
die diese erste Reise
und all diese Menschen
in mein Leben gebracht haben.
Wie sehr sich mein Leben seither verändert hat. Besonders in den Monaten meines Unten.
Kann ich nicht einfach hierbleiben?
Dreißig sein.
Nochmal.
?*
Teil 3 aus der Mai 2025-Reihe „Was ich durch meine Trauer fühlen lernte“.
Nächster Teil: Angst.
*Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Gespräche mit meiner Trauer“
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