Ein Pfefferkorn Hoffnung am Muttertag

Heute ist Muttertag.

Ich stehe am Grab.
In meiner Hand zittert ein kleiner, bunter Blumenstrauß. Zwischen lila Flieder und einer gelben Pelargonie lugen zaghaft blau-lila Vergissmeinnicht hervor.

Es waren die Lieblingsblumen meiner Mutter.

Ich stehe am Grab und trauere …
… dass unsere gemeinsame Zeit zu kurz war.
… dass ich sie nicht anrufen kann, wenn mir etwas Gutes gelingt.
… dass bei meinem ersten Liebeskummer ihre Hand mir nicht tröstend über den Rücken gestrichen hat.
… um unsere Beziehung, die mit dem Krebs gestorben ist.
… um all die Mutter-Tochter-Gespräche, die ich nie mit ihr geführt habe.
… dass das Leben so unfair zu mir war.

Wie ein Film, den ich nicht vergessen kann, läuft in meinem Kopf wieder die Szene vom „Tag der weißen Tür“ ab:

Das Quietschen meiner roten Adidas-Sneaker auf dem braunen Linoleumboden.
Grüne Arztkittel und weiße Schwesterntrachten wehen an mir vorbei.
Ich sprinte hinter meinen Brüdern durch ein Krankenhaus.

Ein Labyrinth aus weißen Gängen führt zur Onkologie.
So viel Weiß um mich herum. Jede Tür: weiß. Jeder Gang: weiß.
Ich rieche den unverkennbaren Geruch von Desinfektionsmittel – und Angst.

Meine Brüder bleiben abrupt vor einer der weißen Türen stehen.
Sie öffnet sich.
Mein Vater zieht mich mit einem Ruck an den Händen ins Zimmer:
„Jetzt verabschiedet ihr euch.“

V-E-R-A-B-S-C-H-I-E-D-E-N???
JETZT?
WARUM?

Tür.
Zimmer.
Monitore.
Schläuche.
Bett.
Kissen.
Mama?
?

Der Krebs hatte gewonnen.

Ich stehe am Grab und trauere …
… um eine Version von mir und meinem Leben, die ich nie kennenlernen werde.

Der Tod meiner Mutter war das Ende ihres Lebens – und der Anfang einer verdammt ehrlichen Beziehung: zu mir selbst.

Zwanzig Jahre nach ihrem Tod fing ich an zu trauern – und wäre an meiner unverarbeiteten Trauer beinahe zerbrochen.
Ich musste feststellen: Es gibt keinen How-to-Trauerleitfaden.

Es gibt keinen schnellen Fix für einen lebenslangen Schmerz.

Trauer ist die krasseste Art der Persönlichkeitsentwicklung.

Ich stehe am Grab.
Am Muttertag.
Die Wahrheit ist:

Der Tag ist Scheiße.

Die Einladung zum geheimen Club der Töchter mit Müttern hat mich nie erreicht.
Ich fühle mich wie eine Outsiderin.

Das macht mich wütend.
Frustriert.
Und traurig.
Oh, soooo traurig.

Zwei Namen stehen auf dem rosa Grabstein:
Meine Mutter.
Und – seit letztem Jahr – mein Vater.

Das tut weh.

Der Schmerz, das Vermissen, das Unverständnis über diese – in meinen Augen – Ungerechtigkeit des Lebens sind meine alltäglichen Begleiter.

An diesem Tag ist alles grau.
Vielleicht fühle ich mich ja morgen wieder bunt.

Auf dem Rückweg sehe ich das Auto meiner Tante vor dem Friedhof stehen.
Also radle ich nochmal zurück ans Grab.

Meine Tante macht große Augen, als ich den Weg entlangkomme.
Wir umarmen uns, und über ihre Schulter sehe ich einen Stoffbeutel auf dem Gras liegen.
Daraus ist ein Pfefferstreuer gerollt.

„Wieso hast du Pfeffer dabei?“
„Für die Blumen. Damit das Reh sie nicht frisst.“

Ich muss grinsen.
Und plötzlich ist der Tag nicht mehr ganz so grau, wie ich dachte.

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