Mut, zurückzuschauen

„Ich denke gerne an die guten alten Zeiten.“
Meine Trauer nimmt mir das Buch aus der Hand und blättert selbst noch einmal über die vollgeschriebenen Seiten.

„Gute alte Zeiten?“
Ratlos sehe ich sie an.
Was soll bitte an Chaos, Dreck, ständigem Gequassel und Gedankenlesen durch meine Trauer gut gewesen sein?

„Ich glaube, du erinnerst dich falsch.“

„Wie kann man sich denn bitte falsch erinnern?“, frage ich.

Meine Trauer steht auf und beginnt, die Mitbringsel einzusammeln.
Dabei rieselt das feine Pulver der Zinkpaste auf meinen Teppich.

„Die Zinkpaste steht für das Kapitel Mut…“, fängt sie an zu erklären.
„Das Medizinfläschchen für das Kapitel Sich Hilfe holen und das Mikrofon für Lernen, was für einen (nicht mehr) richtig ist. An den Überschriften arbeite ich noch.“

Sie zieht kräftig an dem Kabel des Mikros, das sich mit den Fransen meines Wohnzimmerteppichs verknotet hat. Ich höre es reißen und verdrehe genervt die Augen.
Ich sag ja: Chaos.

Stolz stellt meine Trauer jetzt alles auf den Couchtisch.
Den Teppich räumt sie wieder in ihren Koffer und klappt den Deckel zu.


„Ich check’s einfach nicht.“
Verzweifelt hebe ich die Arme – und lasse sie wieder sinken.

„Vielleicht ist es besser, wenn ich es dir zeige. Zum Beispiel im Kapitel Mut…“

Meine Trauer lässt sich wieder neben mir auf die Couch fallen und greift zum Lederbuch.
Sie schlägt das erste Kapitel auf.

„Du erinnerst dich nur an dieses wahnsinnig romantische Kennenlernen mit Dan auf Bali – richtig? Oder den Liebeskummer nach eurer Trennung?“

Sie leckt sich oberlehrerhaft die Finger und blättert Seite um Seite um.
Fehlt nur noch, dass sie sich eine Lesebrille auf die Nase setzt.


„Darum geht es also?“
Langsam beginne ich zu begreifen, welche Geschichten sie aufgeschrieben hat.

Mein Herz krampft sich vor Furcht zusammen.
Meine Trauer hat nicht die Highlights aufgeschrieben –
sondern die Lowlights meines Lebens.
Meine schlimmsten Verluste.

Doch unbeirrt fährt sie fort:
„Ich erinnere mich, dass du damals sehr mutig warst. Es war dein erster Langstreckenflug, dein erstes Mal in einer völlig fremden Kultur, das erste Mal nur mit einer Freundin unterwegs.
Wie du davor Urlaub gemacht hast, fällt mir partout nicht ein.“


„Hast du mich verfolgt oder so?“

„Eher … oder so.“
Gähnend legt sie das Buch zur Seite. „Ich habe Hunger.“

Gleichzeitig beginnt auch mein Magen zu knurren.
Das perfekte Timing lässt uns lachen – und löst meine angespannte Stimmung.
Ich hatte ganz vergessen,
dass ich mit meiner Trauer auch immer jemanden zum Lachen hatte.

„Soll ich uns was zu essen holen?“, frage ich.

„Warum kochst du nicht einfach etwas – so wie früher?“

„Falls du dich erinnerst: Ich war nicht auf Besuch vorbereitet.“

Verschämt grinst sie. „Pizza?“

„Pizza!“


„Du bist mir also bis nach Bali gefolgt?“
Nachdenklich klappe ich meine Pizzaschachtel zu und werfe sie auf die zwei,
die meine Trauer leergeputzt hat.

Dass ich selbst um die halbe Welt gereist bin,
um sie nach unserer Trennung zu finden,
verschweige ich.

Ich habe immer noch gemischte Gefühle über ihren Besuch.
Klar, ich freue mich, nicht mehr allein essen zu müssen –
aber dass sie diese ganzen alten Geschichten wieder hochbringt?
Ich weiß ja nicht.


„Ich bin dir nicht nach Bali gefolgt.
Ich war dabei.“
Meine Trauer streichelt sich selig den vollen Bauch.

„Ich habe dich nie irgendwo gesehen!“

„Das konntest du auch gar nicht. Ich bin ja unsichtbar.“

„Hä? Du sitzt doch jetzt neben mir!“
Ich kneife sie in den Oberarm.

„Aua!“ Sie schlägt meine Hand weg.

„Ich verstehe das einfach nicht. Erst sagst du, du warst dabei, dann sagst du, du bist unsichtbar – und doch sehe ich dich jetzt hier sitzen. Was denn nun?“

„Ach Irene, ich sehe schon: Wir müssen gemeinsam zurückreisen.“


„Ich kann nirgendwohin reisen zurzeit.
Mir geht’s nicht so gut.“

„Für unsere Reisen müssen wir das Haus gar nicht verlassen.
Da kommt die Magie ins Spiel, die ich dir versprochen habe.“
Sie klopft auf meine Couch.
„Wir bleiben genau hier.“

„Aha.“
Ich verschränke die Arme vor der Brust.

„Keine Sorge. Ich verspreche dir, dass wir gemeinsam alles klären können.“

„Was gibt es denn da zu klären?“

„Dass du deine Vergangenheit endlich mit anderen Augen siehst!“


„Mhmm.“
Irgendwie bin ich jetzt doch neugierig geworden.
Vielleicht war es ja tatsächlich mutig von mir,
damals meine gewohnte Umgebung zu verlassen.

„Geht’s dann gleich los?“

Meine Trauer hält die Hand hoch:
„Stopp! Nicht so hastig. Du hast es immer so schrecklich eilig!
Lass uns alles morgen klären – ich bin hundemüde.“


„Und dann erklärst du mir auch, wo du auf Bali die ganze Zeit gewesen bist?“
Ich räume die Pizzaschachteln und gebrauchten Teetassen weg.

Die ganze Aufregung über den Besuch meiner Trauer
hat mich jetzt doch auch müde gemacht.

„Sicher, sicher.“
Ihr fallen schon die Augen zu.
Im Halbschlaf nuschelt sie:
„Wie heißt das Zauberwort?“

„Ähm … Bitte?“
Ich werfe ihr das Sofakissen auf den Bauch,
das ich vorhin auf den Boden geschmissen habe.

„Ouch. Nein! Pelan-pelan.
Meine Trauer beginnt leise zu schnarchen.


Ich greife, wie jeden Abend, nach dem Buch neben meinem Bett.
Ich brauche dieses Ritual zum Einschlafen.
Und heute ganz besonders.

Ich habe einen Gast auf meiner Couch.
Einen Gast, der nicht weiß,
dass ich ihm etwas sehr Wichtiges über unsere Beziehung verschweige.

Wann ist ein guter Zeitpunkt,
jemandem zu sagen,
dass man ihn unter den Teppich gekehrt hat?

Sicher nicht jetzt – oder?


War ich damals wirklich so mutig, wie sie sagt?

Hat sie mit irgendeinem Wort erwähnt,
wie lange sie bleibt?

Und was, bitte, bedeutet Pelan-pelan?

Genervt lege ich das Buch wieder zur Seite.
Pelan-pelan –
es geistert wie ein Ohrwurm durch meinen Kopf.

Pelan-pelan.
Pelan-pelan.*


Teil 2 aus der Mai 2025-Reihe „Was ich durch meine Trauer fühlen lernte“.
Nächster Teil: Freude.


*Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Gespräche mit meiner Trauer“

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