Ein Anruf von der Wut
„Ist für dich.“
Meine Trauer hält mir ihr Handy hin.
„Ich kann doch so nicht telefonieren!“
Ich wische mir den Rotz mit dem Ärmel meines Hoodies ab.
„Vertrau mir einfach – okay?“
„Hallo?“, krächze ich in den Hörer.
Mein Hals ist ganz rau.
Die Buchstaben all des Unaussprechlichen hatten sich während meiner Erzählung vom Tag der Weißen Tür durch meinen Hals herausgedrängt.
Alles, was von ihnen übrig ist, ist ein Aschehaufen auf meinem Designer-Teppich –
als hätte ich hundert Zigaretten geraucht und die Asche einfach fallen lassen.
Irgh.
Durch den Hörer ertönt eine ohrenbetäubende Hupe.
Schnell halte ich ihn weg von meinem Ohr.
Was soll das denn bitte?
Ich höre eine Stimme meinen Namen rufen und drücke das Handy wieder ans Ohr.
Stimmengewirr. Lauter Straßenverkehr im Hintergrund.
Dann – glasklar – eine Stimme:
„Hi Irene! Schön, dass wir uns mal sprechen.“
Die Stimme ist fest, klar und betont jede Silbe wie ein gut ausgebildeter Schauspieler.
„Ähm … mit wem spreche ich bitte?“, frage ich zögerlich.
„Mit der Wut!“
Ich bin sprachlos.
Wut kenne ich eigentlich nur laut und aggressiv –
so wie diese Hupe eben.
Aber sicher nicht mit so einer gut artikulierten Aussprache.
Erstaunlich.
„Ich wollte mich eigentlich nur mal vorstellen.
Nachdem, was deine Trauer mir erzählt hat, passt das gerade ganz gut. Höhö.“
Ich höre, wie die Wut etwas durch einen Strohhalm schlürft.
Ein leichter Wind lässt die Leitung zwischen uns wackeln.
„Okay?“, stammle ich.
Ich spreche mit der Wut? Hallo? Geht’s noch?
Allerdings sollte es mich nicht wundern – immerhin lebe ich mit meiner Trauer unter einem Dach.
Aber die Wut?
Was kommt als Nächstes?
Post vom Neid?
Ein Antrag von der Scham?
Eine Einladung von der Verlegenheit?
Im Hintergrund quietschen Reifen.
„Watch it! Motherfucker!“
Die Stimme schnellt zwei Oktaven höher.
Ich bekomme einen undeutlichen Meinungsaustausch mit –
weitere englische Schimpfwörter inklusive.
„Äh … alles klar bei dir?“
„Jetzt, ja!“
Die Wut lacht fröhlich.
„Die Taxifahrer sind ziemlich aggro hier.
Meine Regel lautet: Einmal angehupt – gleich zurückschreien. Höhö.“
Sie schlürft wieder seelenruhig durch ihren Strohhalm.
„Wo ist ‚hier‘?“
So langsam bekomme ich auch Durst.
„New York!“
Die Wut singt es –
wie Alicia Keys in ihrem Lied über die Stadt, die niemals schläft.
„Ich war noch niemals in New York“, antworte ich wie Udo Jürgens –
und muss grinsen.
„Ich liebe New York. Ich blühe hier so richtig auf!“
„Aha.“
Manchmal wünschte ich, mir würden spontan geistreichere Antworten einfallen.
„Zurück zu dir.“
Hallende Schritte im Hintergrund.
Das Stimmengewirr und der Straßenlärm verstummen.
„Ich gebe dir hiermit die offizielle Erlaubnis, wütend zu sein!“
„Aber, aber …“, stammle ich,
„… das geht doch nicht. Wütende Frauen sind Furien!“
„Woher hast du den Quatsch?“
„Die Gesellschaft?“
„Gesellschaft, Zitronensaft!“
Sind eigentlich alle außer mir in eine Reimschule gegangen?
„Ich gebe dir hiermit die offizielle Erlaubnis, wütend zu sein!“,
wiederholt die Wut.
„Du, nee, ich weiß nicht.
Ich hab früher schon alles ausprobiert –
und nichts, wirklich nichts hat geholfen!
Weder die Vergebung, die ich mit Nuria bis zum Erbrechen geübt habe – Hoʻoponopono oder wie das hieß –
noch Yoga gegen Wut oder Mantren singen.“
„Früher, schmüher!“
Die Wut war offensichtlich nicht Klassenbeste in der Reimschule gewesen.
Ich muss mir ein Lachen verkneifen.
„Lass die Wut einfach raus!“, fährt sie fort.
„Schlag auf ein Kissen.
Schrei in ein Kissen.
Male.
Tanze.
Aber bitte, bitte –
friss deine Wut nicht mehr in dich rein!“
Ich höre das Rattern und Klappern eines einfahrenden Zugs.
„Hast du verstanden?“, ruft die Wut ungeduldig in den Hörer.
„Ja!“, schreie ich zurück, um den Lärm zu übertönen.
„Komm mich doch mal besuchen!“, ruft sie –
dann ist die Leitung tot.
Verblüfft sehe ich auf den Handybildschirm.
„Das war jetzt mal krass“, murmele ich.
Ich gehe in die Anrufliste,
um zu schauen, ob dieses Gespräch mit der Wut wirklich stattgefunden hat.
Tatsächlich:
Die Nummer 988 steht ganz oben –
ein eingehender Anruf über das Handy meiner Trauer.
Ohne Vorwahl.
Mich wundert gar nichts mehr.
Fast gar nichts.*
Teil 1 aus der Mai 2025-Reihe „Was ich durch meine Trauer fühlen lernte“.
Nächster Teil: Mut.
*Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch „Gespräche mit meiner Trauer“
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