Meine Trauer hat einen längeren Atem als ich
Okay, ich habe nicht mit meinem Leben geredet. Ich habe es nicht so mit Konfrontationen. Stattdessen tue ich das, was ich immer tue: ich lenke mich ab. Arbeiten und Filme gucken. Wie entspanne ich mich nach der Arbeit ist eine der drängenden Fragen, die mich durch die letzte Woche begleitet haben. In solchen Situationen helfen mir die üblichen Verdächtigen: Yoga, Spazieren Gehen, schreiben, Geduld haben (kotz – aber nun gut) und Schlaf. Ich wußte nicht, dass schlafen so heilsam sein kann.
Irgendwann ging es am Mittagstisch in der Arbeit um das Thema Hostels. Die Erkenntnis, die ich danach hatte, nämlich, dass ich eine mittelalte, alleinstehende Frau bin, die noch nie im Leben in einem Hostel gewohnt hat und es auch nicht mehr tun wird, liegen mir noch schwer im Magen.
Ein Feuerwehreinsatz bei “meiner” U-Bahn Station zwang mich am Freitag zur nächstgelegenen U-Bahn Station zu radeln und so sitze ich jetzt auf dem Rad. Ein duftender Basilikum in meinem Fahrradkorb hinter mir, ein fetter Kloß aus allen Gefühlen in meinem Herz.
Irgendetwas muss der Geruch in mir ausgelöst haben, denn während ich da so durch mein Viertel strample, schleicht sich ein Bild in mein Gedächtnis. Erst ist es noch ganz verschwommen, ich kann nur die Farben von etwas erkennen: lila-blaulich, etwas hängt über mir. Ich fühle die Kinder-Ichs meiner Brüder neben mir, vor mir sehe ich meinen Wasserfarbkasten. Lauter bunte Farben in meinem Kopf – verwischt. Noch nicht ganz klar.
Plötzlich sehe ich, dass jemand neben mir joggt. Ich höre Flip-Flops neben mir auf den Asphalt klatschen. Ein schneller Blick nach rechts verrät mir: es ist in meine Trauer. Sie ist selten mit mir in der echten Welt unterwegs. Meistens treffen wir uns nur auf meiner Couch. Eigentlich ist sie auch unsichtbar hier draußen.
“Was machst du denn hier?” stöhne ich. Das viele Sitzen im Büro hat meiner mühevoll aufgebauten Kondition einen tüchtigen Dämpfer versetzt.
“Ich bin hier um dich zu erinnern.” Meine Trauer hat anscheinend einen langen Atem. Sie sieht topfit aus, wie sie da neben mir durch die Straße joggt. Wie immer hat sie auch das passende Outfit an: eine dunkelblaue kurze Jogginghose mit dem weißen Emblem der TU – ihrem eigentlichen Arbeitsplatz: die Trauer Uni. Ich hatte mich schon gefragt, warum sie immer noch bei mir wohnt und wir unsere Beziehung nicht weiter über WhatsApp Nachrichten führen.
“Erinnern? An was?”
Das Bild in meinem Kopf wird jetzt stärker. Ich höre das Meer im Hintergrund rauschen, kann den feinen Sand zwischen meinen Zehen spüre. Eine Hand streichelt mir über den Kopf. Ich sehe das breite Lachen, die blauen Augen meiner Mutter.
“Koukla mou.” höre ich sie sagen. Meine Mutter schimpfte immer, wie schwierig griechisch zu lernen sei, aber diese Wörter gingen ihr immer leicht über die Lippen.
“Was? Was passiert hier?” Ich strample immer noch auf dem Rad, meine Trauer joggt lässig neben mir, gerade springt sie über einen Müllbeutel. “Das nennt sich Sturm.” schreit sie mir von der anderen Straßenseite rüber, wohin sie aus gewichen ist, nachdem uns ein Auto entgegen gekommen ist.
Sturm? denke ich. Von meiner Trauer? Die sonst immer so lieb ist?
Ich muss kurz an einer Ampel anhalten, als ich es verstehe: in mir tobt gerade ein Trauer Sturm – auf offener Straße. Für alle anderen unsichtbar.
Sofort spüre ich das übliche Druckgefühl in meinen Augen, mein Hals wird eng und meine Mundwinkel verziehen sich nach unten. Ich bin froh darüber, dass ich meine Sonnenbrillen trage. Meine Tränen können – für andere – auch Schweiß sein.
Als ich den Fuß auf die Pedale setzte und in Richtung meines geliebten Bio-Supermarktes radle, fällt die Erinnerung, wie ein Puzzle in meinem Kopf zusammen und ich sehe, das ganze Bild ganz klar und deutlich vor mir:
es ist ein Moment aus einem unserer unzähligen Familien Griechenland Urlaube. Ein Moment, in dem ich mich so geliebt, so gesehen und so wohl gefühlt haben muss, dass ich ihn in den tiefen meiner Seele abgespeichert haben muss. Denn das Gefühl was ich spüre, als mir meine Mutter über den Kopf streicht, ist: Liebe.
Das Logo des Bio Supermarktes, der, als meine Mutter noch lebte, ein Tengelmann war, wo ich oft an ihrer Hand beim Einkaufen war, verschwimmt vor meinen Augen, alle Farben aus der Realität verschwimmen mit den Farben aus dem Wassermalkasten aus meiner Erinnerung. Nur ein gelber Fleck kristallisiert sich ganz klar heraus. Ganz robust steht der gelbe Fleck an der Tür des Supermarktes und scheint auf mich zu warten. Als ich an meinem üblichen Radparkplatz anhalte und mir die Tränen aus den Augen wische, erkenne ich: es ist mein Leben. Ein gelbes T-Shirt, orange Short, dazu Adiletten und grass grüne Socken über die Knöchel gezogen, genauso wie meine Neffen immer ihre Socken tragen.
Ich muss grinsen. “Wo wart ihr denn?” Ungeduldig tippt mein Leben mit den Zehen auf den Boden. “Es ist Feierabend! Wir haben noch viel vor.” Mein Leben deutet in Richtung der dunkelschwarz glänzenden Kirschen und den süßlich duftenden Melone. Der Duft vermischt sich mit meinem Basilikum. So wie meine Erinnerungen an meine Mutter sich mit meinem Leben vermischen.
Meine Trauer dagegen ist verschwunden. Sie ist wohl schon zurück auf unserer Couch. Als ich den Draht Einkaufskorb nehme, flüstert mein Leben leise neben mir: “Eine Million Euro oder die Möglichkeit für immer in dieser Erinnerung zu leben?”
“Frag mich später nochmal an.“ flüstere ich zurück.