Mein Leben hat eine Panikattacke

“Also? Was habt ihr zwei da gerade gemacht?” Endlich bricht jemand das Schweigen! Diese geladenen Stille zwischen meinem Leben und meiner Trauer ist ja kaum auszuhalten. Ich greife auf ein, wie ich hoffe, unverfängliches Gesprächsthema zurück.

“Wir haben…” Mein Leben und ich fangen gleichzeitig an zu sprechen. Wir halten schmunzelnd inne.
“Sag du.” Mein Leben deutet auf mich.
“Wir haben mir einen Job gesucht!” Erkläre ich stolz.

“Einen Job?” Meine Trauer prustet ihren Tee über meinen Teppich. Eigentlich lag da mal ein Designer-Teppich. Ich musste ihn aber nach einer Zeitreise mit meiner Trauer entsorgen. Wenn ich mich richtig erinnere, war ein Feuer ausgebrochen.

Langsam stehe ich auf, hole ein Geschirrtuch aus der Küche und werfe es meiner Trauer auf den Schoß. Dass meine Trauer Chaos verbreitet, weiß ich schon. Ich habe irgendwann einfach aufgehört mich darüber aufzuregen.-

Leise höre ich mein Leben flüstern: “Was für eine Sauerei!” Schnell werfe ich ihr einen Blick zu, der besagen soll, dass sie meine Trauer nicht für ihr Chaos verurteilen soll. Die Nachricht scheint angekommen zu sein, mein Leben zuckt nur mit den Schultern. Meine Trauer dagegen bekommt von dieser stillen Unterhaltung nichts mit.

Sie macht gerade ein großes Gewese und putzt sich mit ausladenden Handbewegung. Flüche fallen. 
“Es tut mir so leid!” Mit ihrem Hinterteil stößt meine Trauer dabei an meine Stehlampe. Zwar kein Designer Stück und doch hängt eine Erinnerung an ihr. Ich schlucke den Kloss hinunter und nehme meiner Trauer das Geschirrtuch ab und drücke sie wieder auf die Couch.

“Lass gut sein. Ich hatte letztens einen Unfall mit einem in Sojasoße getauchten Sushi Stück. Das passt schon.”
“Puh. Okay! Ich weiß doch, wie wichtig dir Ordnung und Sauberkeit ist.” Jetzt prustet mein Leben los: “Ordnung und Sauberkeit? Sprechen wir von der gleichen Irene?”

Es kann sein, dass ich im Moment eher dazu neige, im Chaos zu leben. Im Innen, wie im Außen. Nachdem meine Trauer mehr Zeit an der Trauer-Uni verbringt, als bei mir, erschien es mir sinnlos auf Ordnung zu bestehen. War ja nur ich, die in meiner Wohnung lebte. Wozu also der Aufwand? Mein Leben allerdings hasste das Chaos. Es hat mich mehrfach ermahnt aufzuräumen. Als das nichts geholfen hat, hat mein Leben mir einen Kalender gemacht und an meinem Kühlschrank gehängt. Jede Stunde des Tages war verplant. Ich ignorierte den Kalender und habe diverse Kunstpostkarten darüber befestigt habe. An den Streit, den mein Leben daraufhin hatten, will ich nun wirklich nicht denken. 

“Hey!” fahre ich meinem Leben über den Mund. „Ich versuche mich an der Ordnung – okay?” Ich weiß nicht warum, aber egal was mein Leben sagt oder tut, es bringt mich auf die Palme. 

“An den falschen Stellen!” faucht mein Leben zurück. 

“Ich tue mein Bestes – okay?” fauche ich zurück. 

Meine Trauer beobachtet uns und stellt dann mit Schwung ihre Teetasse auf den Seitentisch neben meiner Couch: “Jetzt macht mal halblang.”

“Wir waren eigentlich bei dem Job Thema stehen geblieben. Irene?” Auffordernd nickt mir meine Trauer zu. “Ja, also, ich…” stammle ich. “Ich möchte wieder arbeiten gehen.” Ich weiß nicht warum, aber es hört sich so an, als würde ich meine Trauer um Erlaubnis bitten.

“Das hört sich doch nach einem Plan an.” Zufrieden nickt meine Trauer.
“Aber warum hast du denn dann deinen Tee auf meinen Teppich verteilt? Ich dachte du wärst dagegen?” frage ich.

“Nein. Ich bin nicht dagegen.” Meine Trauer betrachtet interessiert ein Bild an meiner Wand. Seltsam. Normalerweise sieht meine Trauer mich immer an, wenn sie mir spricht. Ihre Augen fühlen sich manchmal so an, als würden sie mir in die Seele blicken.

“Ich habe nur Angst, dass du mich vergisst.“ flüstert meine Trauer leise.

“Ach Trauer!” Spontan rücke ich neben sie auf die Couch und lege den Arm um sie. “Ich brauche dich doch! Deshalb habe ich dich doch gebeten zurück zukommen. Erinnerst du dich nicht an unser Telefonat?”
“Vage. Der Übergang von meiner unsichtbaren Welt in deine Sichtbare scheint noch nicht so ganz reibungslos zu funktionieren. Ich schreib das mal schnell auf.” Meine Trauer zückt ihr heißgeliebtes IPhone und beginnt etwas einzugeben. Ihren Professor Modus finde ich persönlich eher nervig, aber wenn es sie glücklich macht, warum nicht?

“Wovon redet ihr denn da?” Neugierig lehnt sich mein Leben vor und sieht uns auffordern an. “Naja…” beginne ich “es ist so, meine Trauer ist nur für mich sichtbar. Hier, in meiner Wohnung. Es geht aber auch ein Hotelzimmer. Meine Trauer hat mich extra im Friedhof eingesperrt, um mir das zu beweisen. Ist ne andere Geschichte.” Ich winke ab. Ich habe keine Lust, diese story wieder zu erzählen.

“Friedhof?” Mein Leben spricht das Wort so langsam aus, als würde sie es zum ersten Mal hören. Es zieht die Augenbrauen hoch. “Was ist das?” Meine Trauer und ich sehen erst uns an, dann mein Leben. “Du weißt nicht, was ein Friedhof ist?” frage ich. Es schüttelt den Kopf und hebt entschuldigend die Hände: “Nein, tut mir leid.”

“Soll ich oder willst du ?” frage ich meine Trauer. “Mach du. Ich bin zu müde.” Ausgiebig gähnt meine Trauer und reckt sich dabei. “Ein Friedhof ist ein Ort, wo die Toten begraben sind.” “Die Toten?” wieder dehnt sie die Wörter, so als würde sie sie zum ersten Mal hören. Kennt mein Leben das Konzept des Todes nicht?

“Äh ja. Wenn Menschen sterben, dann sind sie tot. Von uns gegangen, über den Regenbogen, auf der anderen Seite. Such dir was aus.” “Aber…” Ich kann förmlich sehen, wie im Kopf meines Lebens die Räder rattern. “Heißt das du auch stirbst?” Ich schlucke schwer. Mit meiner eigenen Sterblichkeit von meinem Leben konfrontiert zu werden war jetzt nicht die Richtung, die ich dachte, dass sich ein Gespräch über meine Job-Suche entwickelt. Ob das an meiner Trauer liegt?

Ich räuspern mich und versuche das, was meine Trauer immer mit mir gemacht hat, wenn ich mich weigerte, etwas zu verstehen. Ich übe mich in Mitgefühl und Geduld mit meinem Leben. “Ja, auch ich werde sterben.” “Wann?” schießt es aus meinem Leben und es wird ganz bleich im Gesicht. Die Atmung meines Lebens wird schneller. “Äh. Das weiß ich nicht.” Mein Leben beginnt jetzt zu hyperventilieren, der Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. “Wie kannst du da so ruhig hier sitzen?” frägt es mich. Mein Leben steht auf und fängt an zu zittern. “Wir…” Mein Leben versucht Luft zu bekommen: “haben… doch… noch… so viel VOR.“  

Ich glaube, mein Leben hat gerade eine Panikattacke. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck und ich weiß genau, wie es sich anfühlt keine Luft mehr zu bekommen. Kein Wunder, der Gedanke nicht zu wissen, wann ich sterbe, treibt mich auch manchmal in den Wahnsinn. Ich war auch schon kurz davor, dieser Ungewissheit ein Ende zu setzen mit einer Lesung in einer Palmblatt-Bibliothek auf Bali. Ich habe mich dann aber doch dagegen entschieden. Ich empfand das damals als self-fulfilling prophecy. So nach dem Motto, wenn ich weiß, wann ich sterbe, muss ich ja gar nicht mehr leben, sondern kann nur auf den Tod warten. Hätte ich damals gewusst, dass mein Leben bei mir einzieht, hätte ich mich vielleicht dafür entschieden. Aber auch nur um meinen Leben aus der Panickattacke heraus zu helfen. Was ich ja nicht vorher sehen konnte. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und ich greife mir an den Kopf.

Meine Trauer blick von ihrem Handy hoch; sieht mich, wie immer, in die Vergangenheit abdriften, mein Leben hyperventilieren und springt auf. “Mensch Irene. Du kannst doch dein Leben nicht so hängen lassen!” Meine Trauer sprintet in meine Küche. Diverse Schubladen werden auf- und zugezogen. Irgendetwas fällt auf den Boden. Ich höre ein triumphierendes “HA”.

“Hier!” Meine Trauer hält meinem Leben eine braune Papiertüte vom Bio-Markt meines Vertrauens hin. Verwirrt stoppt mein Leben die Kreise, in denen es gelaufen ist und sieht meine Trauer mit großen Augen an. “Du sollst rein atmen. So.” Meine Trauer atmet tief durch die Nase ein, hält eine Millisekunde inne und atmet dann lange wieder aus. Hey! Das ist eine Atemtechnik, die mir meine Therapeutin beigebracht hat. Sie ist eine große Verfechterin des JETZT. Woher weiß, dass jetzt meine Trauer wieder?

Hektisch atmet mein Leben jetzt in die Tüte. Wie ein Blasebalg bläht sich diese auf und zieht sich wieder zusammen. Plötzlich hört mein Leben auf, reißt sich die Tüte vom Gesicht und zupft sich einen Kassenzettel vom Mund. “Jetzt wäre ich beinahe draufgegangen!” ruft es und beginnt wieder in die Papiertüte zu atmen. Ach herrje, denke ich, mein Leben ist dramatisch veranlagt. Das kann ja heiter werden. Schon interessant, dass es in den wenigen Wochen, die es nun bei mir wohnt, diese Seite vor mir verbogen hat.

Ich finde ich muss jetzt auch mal wieder was sagen: „Leben? Du hast eine P a n i k a t t a c k e.” erkläre ich langsam. Mir hat es immer geholfen, ein Wort für diesen Zustand zu haben. “Atme einfach weiter. Okay? Atmen wird dir helfen, aus der Panik zu kommen. Vertraue mir. Ich war da schon. Das geht vorbei.” Ich atme meinem Leben vor: tief ein und aus. Mein Leben nickt mir zu.

Langsam setzen sich meine Trauer und ich uns auf den Boden vor mein Leben. „Was können wir noch tun?“ frage ich meine Trauer. „Da sein, Irene. Das weißt du doch.“ Mein Leben bekommt wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Ihre Schritte verlangsamen sich. Als es an dem letzten Rest der Papierfahne mit dem Wort „Partner“ vorbeiläuft, beginnt dieses heftig an zu flattern. Ich spüre, wie eine Erinnerung in mir hochkommt. Ich schließe die Augen.

Neben mir höre ich noch meine Trauer leise ein Lied summen, was meine Mutter sehr geliebt hat. “Que sera, sera. Whatever will be, will be. The future is not ours to see.” “Que sera, sera.” summe ich den letzten Teil in Gedanken mit. 

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