Mein Leben ist für andere uninteressant

Ring, Ring.
Ich schlage die Augen auf. Eine graue Filz Wand versperrt meinen Blick. Neben einem Festnetztelefon steht eine kleine Topfpflanze, in deren Erde ein kleiner goldener Buddha mich schelmisch angrinst. Auf dem Display des Telefons sehe ich die Vorwahl +1 auf leuchten. Wo bin ich? Alles scheint mir so vertraut.

Ring, Ring.
Das Telefon klingelt weiter. Ich beachte es nicht. Mein Blick schweift durch bodentiefe Fenster auf eine Kreuzung. An der einen Ecke leuchtet das orange Schild einer Supermarktkette durch den grauen Tag. Gegen die Scheiben klopft Regen, vereinzelt wehen Blätter einer Tageszeitung über die leeren Straßen. Ein einzelner  Obdachloser kniet in einer windgeschützten Ecke und macht sich ein Bier auf. Mir wird ganz flau im Magen. Ich weiß warum mir das alles so vertraut vorkommt. Ich habe hier mal gearbeitet! Genau an diesem Platz mit diesem Blick auf die Kreuzung habe ich zwei Jahre meines Lebens verbracht. 

Shit! Ich bin wieder hier! Wieder zurück gereist in einen Teil meiner Vergangenheit! Anscheinend hat nicht nur meine Trauer die Fähigkeit Zeitreisen mit mir zu unternehmen, sondern auch mein Leben! Na das kann was erleben! Ich hatte mir geschworen nie wieder an diese Zeit bei Junction, so hieß die Firma, für die ich damals gearbeitet habe, zu denken. 

Ring, Ring.
Wieder die amerikanische Nummer. Ich gehe nicht dran. Ich arbeite hier nicht mehr, soll sich jemand anderes drum kümmern. Die fluoreszierende Deckenlampen spiegeln sich in dem großen Bildschirm an meinem Arbeitsplatz. Fasziniert betrachte ich mein Spiegelbild. Ich bin sorgfältig geschminkt und meine Haare sind geföhnt. Roter Nagellack glänzt an meinen Händen. Diese Version von mir dachte ich schon längst vergessen zu haben. Meine Handflächen werden feucht, schnell reibe ich sie an meinem Oberschenkel trocken. Ich trage ein schwarzes Kleid! Ich habe schon seit Jahren kein Kleid mehr getragen. Mein Blick schweift auf den Boden neben dem Schreibtisch an dem ich sitze. Mein Herz macht einen kleinen Sprung. Meine geliebte graue Umhängetasche von Liebeskind! Ich hatte sie in einem Ausmistwahn weggeschmissen. Manche Dinge loszulassen, stellt sich im Nachhinein als ein Fehler heraus. Nicht dieser Job. Ich drücke die Tasche an mich. Endlich etwas Gutes aus dieser Zeit!

Rechts neben mir fällt plötzlich eine beige farbene Chinohose auf. Das Bein, das in ihr steckt hibbelt ungeduldig. Da die graue Filzwand auch einen Teil von meinem Blick in den restlichen Raum versperrt, werfe ich einen Blick um die Wand herum.

“Hey! How was it in my beloved home country?”
Meine Augen füllen sich spontan mit Tränen. Mein alter Kollege Constantin! Ich muss wohl relativ am Anfang meiner Zeit bei Junction gelandet sein. Ich war für zwei Wochen in die USA geschickt worden, um in ein komplexes E-Mail Programm eingearbeitet zu werden. Ich krame verzweifelt in meinem Gedächtnis. Das ist alles schon so lange her? Was soll ich denn jetzt antwortet? Hilfesuchend blicke ich mich hastig an meinem Schreibtisch um. Ein hölzerner Weihnachtsmann steckt an der Trennwand. Mir fällt wieder ein, wie verloren und einsam ich mich in den USA gefühlt habe. Genau so verloren wie der grinsende Weihnachtsmann in dem Grau der Filzwand. Zwei Wochen war ich in einem Hotel untergebracht, auf Firmenkosten, versteht sich. In der Gegend gab es nur zwei Sachen zum sehen: Bürogebäude und Shopping Malls. Dort hatte ich versucht mir die Zeit zu vertreiben und mein Unglück zu vertreiben. Was natürlich nicht funktioniert hat. Nur der Weihnachtsmann spendet mir ein bisschen Trost. Jeden Abend kehrte ich müde in mein Hotelzimmer zurück. Nicht mal die Fenster ließen sich öffnen, die ganze Zeit lief die Air Condition und ich hatte das Gefühl zu ersticken. 

“Eirien?”
Ich schrecke aus meiner Erinnerung. Constantine sieht mich fragend an und schiebt sich dabei seine Hornbrille auf die Nase. Ohje. Die Wahrheit über meine Einsamkeit kann ich ihm nicht erzählen. Schließlich war er so stolz auf sein Heimatland. Also tue ich das, was ich damals immer getan habe: die Zähne zusammenbeißen und irgendeine Geschichte erzählen mit dem mein Gegenüber zufrieden ist.

“It was awesome! I went Christmas shopping and bought a beautiful coat.” Das war nur eine halbe Lüge, denn wie ich vorhin im Spiegelbild auf meinem Bildschirm gesehen hatte, hing auf meinem Bürostuhl meine alte graue Daunenjacke von Abercrombie & Fitch. Ein rares Gut. Die Marke kam erst ein paar Jahre später nach Deutschland. Ich war so stolz auf sie gewesen und hatte sie so lange getragen, bis sie mir zu klein geworden war. Was mir damals alles wichtig war, wundere ich mich im stillen.

“Nice! How did you like the girls?” Constantine lächelt mich jetzt wieder strahlend an. Seine kurze Verwirrung über meine zögerliche Antwort, scheint verschwunden zu sein. In seinem jungen Gesicht sehe ich keinerlei Argwohn, nur pure Neugierde und Interesse. Mir fällt ein, wie gerne ich Constantine als Kollegen hatte. Er war so ein tiefenentspannter Charakter gewesen, der mir in der stürmischen Zeit, die ich bei Junction hatte, immer Halt gegeben hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das je gesagt habe. Ich schätze eher nicht. Wir verstanden uns zwar gut, aber über Gefühle redeten wir nicht. Besser gesagt: ICH redete damals mit niemandem über meine Gefühle.

Ring, Ring.
Dieses verdammte Telefon! “Better get that. Markus doesn’t like waiting.” Constantine zwinkert mir zu und dreht sich dann wieder seinen Bildschirm zu.

Marcus? Wie in mein alter Chef Marcus? Oh neee! Auf den habe ich jetzt so gar keinen Bock. Hatte ich schon damals nicht. Schnell tue ich so, als würde ich in meiner Handtasche etwas suchen. Das Firmentelefon verstummt. Dafür vibriert es jetzt in meiner Handtasche. Irritiert krame ich mich den Inhalt meiner geliebten Handtasche. Meine Hände tasten sich durch etwas Weiches, einer Zigarettenpackung, diverse Schokoriegeln, Haargummis, Nagellackflaschen und einer halb angefressenen Butterbreze. Das Papier der Tüte ist ganz fettig. Igitt!

Schnell ziehe ich meine Hand aus der Handtasche. Mein Handy in der Hand. Fettige Finger um eine rote Handyhülle gespannt. Marcus‘ Name blinkt auf dem Display. Marcus doesn’t like waiting.
In der Tat, wenn Marcus etwas von einem wollte, dann konnte er s e h r nerven. Ich erinnere mich noch gut an seine Anrufe, die gerne auch mal Freitag Nachmittags um halb fünf erfolgten. In diesen ging es nie um etwas Wichtiges. Es waren Kontrollanrufe an mich und meine KollegInnen, ob wir auch noch ja im Büro sitzen. Marcus war dagegen, während diesen Telefonaten schon oft auf dem Weg in sein Wochenende. Wollte ich etwas von ihm, eine Beförderung, mehr Gehalt oder Home Office, tauchte er unter und ging nie an sein Telefon.

Mein Handy hört auf zu brummen und zeigt mir eine neue Voicemail an. Der kann mich mal! Ich arbeite hier nicht mehr! Was auch immer es ist, wir hatten es schon und mein altes Ich hat sich, so gut sie es damals konnte, drum gekümmert.
Aus den Kopfhörern, die an den Firmenlaptop angeschlossen sind, ertönt nun der typische Skype Klingelton. “Marcus calling” erscheint in der rechten unteren Ecke des Bildschirms. Demonstrativ stehe ich auf. Ich muss mir erstmal die Hände waschen.

Ich quetsche mich hinter dem Bürostuhl von Constantine durch das kleine Büro in Richtung Glastür. Schon lustig, wie mein Gedächtnis funktioniert. Ich weiß genau, wenn ich jetzt die Tür öffne, mir von links aus dem Büro Stimmengewirr und Gelächter entgegen schallen wird und das in dem rechten Büro meine anderen zwei Lieblings Kollegen sitzen. Karl und Karla. Ich weiß nicht mehr wieso, aber damals liebte ich diesen bunt zusammengewürfelten Haufen von Menschen, die so viel Leben in mein Leben brachten.

Im Büro Flur passiere ich ein kleines Regal in dem ich immer die Post der KollegenInnnen ein sortiert habe. Eine der vielen kleinen Aufgaben, die mir in den Schoß gefallen waren. Okay gut. Das war gelogen. Diese Aufgabe machte ich gerne.  Für fünf bis zehn Minuten am Tag konnte ich dem Büro Trubel entfliehen und eine Rauchen gehen.
Am Gang hängen Landschafts- und Blumenbilder von einem Künstler, den Karla auf einem Malta Urlaub entdeckt hatte und unseren Chef, Marcus irgendwie dazu überredet hatte, von diesem Künstler Bilder zu kaufen. Karla bekam was sie wollte von Marcus. Ich nicht. Ich glaube mich an das Wort Büroverschönerung zu erinnern. Eigentlich müsste es irgendwas auf Englisch gewesen sein, denn Marcus war Schwede und die Hauptsprache im Büro war Englisch. Ich habe keine Ahnung wie ich das hinbekommen habe, jeden Tag in einer anderen Sprache zu reden, Präsentationen zu halten und vor allem sinnvolle E-Mails in Englisch zu schreiben. Leise seufzend gehe ich langsam weiter in Richtung Küche.

Eine Bürotür öffnet sich. “Marcus sucht nach dir!” Ich muss grinsen. Vor mir steht Karl. Er hatte ein Jahr vor mir bei Junction angefangen und auch wenn er Familienvater war und minimum zehn Jahre älter als ich, verstanden wir uns blendend. Spontan will ich Karl umarmen, lasse es aber. Auch mit ihm sprach ich nicht über das, was ich wirklich fühlte. “Ich weiß.” stöhne ich und zeige ihm meine fettigen Hände. “Muss wichtig sein. Besser du rufst ihn zurück!“ Karl schließt die Bürotür hinter sich, wie eine Schnecke, die den Kopf zurück in ihr Haus zieht.

Bevor ich Junction angefangen hatte, hatte ich mich auf über 100 Jobs beworben. Und 99 Absagen bekommen. Ich weiß bis heute nicht, woran das lag. Anscheinend wollte mein Leben, dass ich genau in dieser Firma lande.

“Servus Irene!” Mein Leben! Entspannt sitzt es an dem Hochtisch einer schwedischen Möbelmarke und trinkt aus einem großen roten Becher. In der Küche, deren ebenfalls bodentiefe Fenster den Blick freigeben auf umliegende teure Wohnungen und Büros, riecht es nach geröstetem Kaffee. Kein Wunder, dass mein Leben immer so schnell unterwegs ist, wenn es Kaffee inhaliert.

Abrupt halte ich inne. “Was machst du denn hier?” Mein Leben schlägt die Seite einer Zeitung um und nimmt noch mal einen Schluck Kaffee. Ein kleiner weißer Schaum auf ihrer Oberlippe erinnert mich kurz an den Bart des Weihnachtsmann an meinem Schreibtisch.
“Ich habe dir doch gesagt, dass ich immer bei dir bin.”
“Aber, aber…”
„What’s up?” Dick! Der Chef von meinem Chef kommt in einem teuren Anzug in die Küche und wirft nur einen kurzen Blick auf mein Leben und dann gleich wieder auf sein Handy.

Wie angewurzelt stehe ich in der Küche und schaue Dick dabei zu, wie er sich einen Kaffee aus der sündhaft teuren Kaffeemaschine heraus lässt, dabei tippt er weiter auf seinem Handy herum.
“Kann er dich sehen?” flüstere ich meinen Leben aus den Mundwinkel heraus zu.
“Ja!” antwortet mein Leben laut. “Aber ich interessiere ihn nicht.” Mein Leben wirft Dick einen wütenden Blick zu. Der rührt sich weiterhin auf sein Handy starrend nun braunen Zucker in den Kaffee. Ich versuche mich vor mein Leben zu stellen. Dick jetzt zu erklären, dass das mein Leben ist, erscheint mir doch als sehr verrückt.

Dick nimmt jetzt einen Schluck aus seinem roten Becher: “Hmmm.” Schmatzt er. “Only Italian coffee is the best coffee – right, troublemaker?” Dabei grinst Dick mich an und verlässt, schon den nächsten Call am Handy annehmend die Küche. Er dreht sich noch mal um und ruft mir zu: “Call Marcus!” 
Ich habe, glücklicherweise, vergessen, warum mein Spitzname “troublemaker” war. Aber ich hasste ihn. Außerdem hasste ich diese Einstellung, dass alles nur vom besten sein musste. Diese Firma hatte Geld! So viel Geld. Ich erinnere mich noch an einen Oktoberfestbesuch, bei dem das ganze europäische so viel Schnaps und Bier gesoffen hat, dass ich den ganzen Abend über Angst hatte, dass der Gutschein in meiner Tasche, der schon einen dreistelligen Betrag aufwies, nicht ausreichen würde. Max, ein anderer Kollege, “rettete” mich am Ende und bezahlte den restlichen dreistelligen Betrag in Bar und setzte alles auf seine Spesenabrechnung. Aber für meine Gehaltserhöhung schien das Geld nie da gewesen zu sein.

Schon die Erinnerung an Max lässt mich schaudernd. Mir wird noch schlechter, als mir eh schon von dieser Zeitreise ist. Max kam immer einen Tick zu nah in meinen personal space. Nicht nur bei mir, sondern bei allen weiblichen Kolleginnen. Er war derjenige, der mich jedes Mal zur Begrüßung umarmte und mich dabei einen weiteren Tick zu lange festhielt. Angewidert schüttele ich mich. Ich fühlte mich damals, wie eine tickenden Zeitbombe, die nur darauf wartete zu explodieren. Schnell wasche ich mir meine fettigen Hände, so als könnte ich damit auch die Erinnerung an Max abwaschen. 

Mein Leben räuspert sich. Erschrocken fahre ich herum. Mein Leben lächelt entspannt. “Wer ist Marcus?”
“Mein alter Chef. Wir hassen ihn.” Ich schüttle mich nochmal und lasse Wasser in einen teuren Wasserkocher fließen. Den alten musste ich entsorgen, da das Team der Meinung war, er wäre zu langsam. Irgendwann hatte ich damals aufgegeben, diese Details zu hinterfragen. Schon seltsam, woran mein Gehirn sich noch alles erinnert.

“Nicht w i r hassen ihn. Du hasst ihn!” stellt mein Leben klar und steht von einem der Barhocker auf. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Die Firma war umgezogen und Karl und ich hatten mit der Firmenkreditkarte den halben schwedischen Möbelladen für neue Küchenmöbel und weiteren Schnick Schnack für die neuen Büroräume besorgt. Zum Einstand in die neue Büroräume hatte ich eine “DIY”- Party organisiert:  Welches Team kann am schnellsten schrauben und hämmern. Marketing vs. den Rest. Marketing verlor, spendierte dafür allerdings den Champagner, mit dem wir alle lachend auf die neuen Räumlichkeiten anstießen. Das war ein guter Tag. Daran erinnere ich mich.

“Moment! „Heißt das, du bist nicht mein damaliges Leben, sondern mein jetziges Leben?” Schon auf den Zeitreisen mit meiner Trauer, war ich durcheinander gekommen mit den verschiedenen Versionen meiner Trauer. Mein Leben zieht die Stirn in Falten und sieht mich besorgt an. Lässig lehnt es sich neben mich an die Büro Küchentheke.
“Du hattest damals kein Leben. D a s … “ Mein Leben deutet mit dem Daumen in Richtung Büro Flur “… war dein Leben. Und natürlich Mr. Right.” Genervt verdreht mein Leben die Augen.

Mein Handy vibriert in meiner Hand. Auf dem Display erscheint ein Foto von mir und Mr. Right, das ich damals sehr liebte. Mr. Right, groß, blond und extrem gut aussehend hat den Arm um mich gelegt. Ein römischer Gott mit einer griechischen Göttin, hatten wir damals immer gescherzt. Hinter uns erkenne ich die Isar und strahlend blauen Himmel. Neben ihm sehe ich ganz klein aus. Ein unsichtbarer Wind bläst unsere Haare zusammen, dass sich die Farben von blond und braun vermischen. Es ist nicht zu erkennen, wo Mr. Right aufhört und wo Irene anfängt. Genauso war unsere Beziehung damals. Genauso waren alle meine Beziehungen damals. Es gab keine Grenzen, ich hatte keine Grenzen. Ich wusste nicht mal, was das ist. Ich dachte, um geliebt zu werden, müsste ich immer alles von mir geben. Ein Ich gab es damals nicht.

„Wenn man vom Teufel spricht.” stöhnt mein Leben.
“Hey!” zische ich es an. “Mr. Right war kein Teufel – okay?!” Ich mache eine kleine Pause und betrachte sehnsüchtig, das Bild von Mr. Right und mir. Nach unserer Trennung hatte ich es von meinem Handy gelöscht. Als ich mich selber so glücklich strahlend sehe, zieht sich mein Herz zusammen.

Ich hatte das Plakat mit der Aufschrift “Partnerschaft”, was mein Leben an meine bodentiefen Fenster gehängt hatte, rigoros zusammen geknüllt. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass die Sehnsucht nach einer Partnerschaft nicht doch ab und an in mir auftaucht. Natürlich nicht mit Mr. Right. Sondern mit jemand anderem, jemand, der sich für mich, meine Trauer und mein Leben interessiert.

“Hrm.” Neben mir räuspert sich mein Leben. “Irene? Ein Schritt nach dem anderen.”
“Kannst du meine Gedanken lesen?” Ich hatte das schon meiner Trauer bei ihrem Einzug verboten. Allerdings musste ich dann bei einer anderen Zeitreise feststellen, dass dies unser einziges Kommunikationsmittel war. Das Tabu über meine Trauer zu sprechen, hatte mir sprichwörtlich den Hals zugeschnürt.

„Selbstverständlich nicht!” entrüstet zieht sich mein Leben noch einen Kaffee aus der teuren Büro Kaffeemaschine. “Ich empfang nur so vibes von dir. Der gerade war dunkelblau, was laut deinem Buch, Sehnsucht bedeutet.”

“Du hast mein Buch gelesen?” frage ich erstaunt. Mein Teewasser ist fertig und ich ziehe eine Küchenschublade nach dem anderen auf, um nach Teebeuteln zu suchen. 

“Natürlich! Das war die Bedienung deiner Trauer. Bevor du nur einen Fuß in die Tür setzt, liest du Irene’s Buch. Deine Trauer ist ganz schön streng.”

In Gedanken schicke ich meiner Trauer ein riesengroßes Dankeschön. Würde ich jetzt nicht gerade in meiner Vergangenheit stehen, sondern wäre in meiner Echtzeit, dann würde ich ihr jetzt eine WhatsApp schreiben und mich bei ihr bedanken. Damals hatte ich keinen Kontakt zu meiner Trauer.

Versteckt hinter Sojasoßen Beutel, Essstäbchen und diversen Essenslieferanten – Flyern finde ich endlich die Teebeutel. Keine Ahnung wem der Glückstee gehört, vielleicht sogar mir oder besser gesagt meinem alten Ich. In den zwei Jahren, die ich bei Junction arbeitete, stand ich am Anfang meines Selbstfindung Weges und beschäftigte mich mit dem Buddhismus. Deshalb auch der kleine goldene Buddha in der Topfpflanze an “meinem” Schreibtisch. Konnte ich in dieser Zeit nicht so glücklich grinsen, dann konnte Buddha das für mich erledigen, dachte ich. Das ich selbst für mein Glück verantwortlich bin, Buddha hin oder her, war mir damals noch nicht klar. Wie so vieles.

Mein Handy, was ich bei der Suche nach den Teebeuteln, auf die schwarze Marmorplatte der Büroküche gelegt hatte, fängt wieder an zu vibrieren. Als ich das Handy in die Hand nehme, um zu checken, wer das jetzt wieder ist, sehe ich, dass Mr. Right mir eine WhatsApp geschrieben hat. Sie beginnt mit Hey Spatzl, sein Kosename für mich, der mein Herz wieder vor Sehnsucht schwer werden lässt. Ich bin schon lange kein “Spatzl” mehr gewesen. Seufzend lege ich mein Handy weg und tauche den Tee in eine rote Tasse. Im nächsten Moment fängt mein Handy wieder an zu vibrieren und ruckelt über den Marmor. Ein schneller Blick zeigt mit, dass es wieder Marcus ist. Mein Chef. Schon wieder!

“Kleiner Tipp. Ich an deiner Stelle würde das Gespräch annehmen.” Mein Leben ext den x-ten Kaffee, Espresso oder was auch immer es den ganzen Tag trinkt, herunter. Seine blauen Augen blitzen, so als würden sie mich zu einem Duell auffordern.

“Kein Bock. Ich arbeite doch hier gar nicht mehr. Was interessiert mich da noch, was Marcus von mir will.”
“Du hast es immer noch nicht kapiert – oder?” 

Langsam ziehe ich den Teebeutel in der Tasse hoch und runter. Fasziniert betrachte ich, wie sich das Wasser grün färbt. Etwas, wofür ich in diesem Job definitiv nie Zeit hatte.

Das Vibrieren meines Handys verstummt. Mein Leben schnalzt ihren Daumen und Zeigefinger zusammen und zieht mit seinem Zeigefinger Kreise. Plötzlich verstummt auch das ganze Büro Hintergrundrauschen von klingelnden Telefonen, Stimmengewirr und Türen, die geöffnet und geschlossen werden. Es ist plötzlich still in der Büroküche. So als würden mein Leben und ich uns in einer Blase befinden. 

“Wie hast du das gemacht?” Ich sehe mein Leben auf einmal mit ganz neuen Augen. Die Zeit anhalten oder was auch immer hier gerade passiert, konnte meine Trauer nicht. 

“Magic!” grinst es mich an. Dank meiner Trauer weiß ich, was mein Leben damit meint.

“Es ist so, Irene…” fährt mein Leben fort. „Solange sich mein Finger sich dreht, steht die Zeit still. Das ist eine sogenannte Auszeit. Ich kann diese Zeit nicht ewig für dich anhalten, weil sich sonst deine echte Zeit verändert. Wir sind nochmal zu Junction zurückgekehrt, weil du hier etwas verändert hast. Für dich. Und dieses etwas mit Max zu tun. Deshalb rate ich dir, dass du Marcus zurück rufst. Rufst du ihn nicht zurück, kehren wir sofort zurück in deine Echtzeit, rufst du ihn zurück, wirst du die Magie erleben. Ich empfehle dir, dich schnell zu entscheiden. Dein Designer Sessel musste schon dran glauben und ist verschwunden.”

“Äh? Was? Mein Designer Sessel?” entsetzt denke ich an meinen Designer Sessel, der irre gut aussah, auf dem ich aber nie saß.
“Die angehaltene Zeit hat ihn gefressen. Im Moment nagt sie an dem linken Tischbein deines Künstlertischs vom schwedischen Möbelhaus. Die Tischplatte kippt schon bedrohlich, alle Stiften rollen die Platte runter. Rufst du Marcus zurück oder kehren wir zurück?”

“Ich habe ewig gebraucht diesen Tisch zu finden! Noch länger hat es gebraucht, die 100 Stifte nach den Farben des Regenbogens zu sortieren! Meine Trauer hat mir nie ein Ultimatum gesetzt!” maule ich patzig.

Mein Leben kneift die Augen zusammen, so als würde sie etwas sehen, was ich nicht sehen kann. Ihr Finger kreist immer noch in der Luft. “Der Behälter mit den Stiften liegt jetzt auf der Kante, noch ein paar Sekunden länger und die Auszeit hat das Tischbein komplett aufgefressen.” 

Böse schaue ich mein Leben an, nehme mein Handy und drücke die Rückruf Taste.
“So haben wir nicht gewettet.“ Mein Leben senkt den Finger. Alle Hintergrund Geräusche ertönen wieder, so als würde jemand den Volumenregler wieder aufdrehen. Die Kaffeemaschine entscheidet sich genau in diesem Moment, dieses seltsame Selbstreinigungsprogramm zu fahren, das klingt, als würde ein Traktor durch die Büroküche Kaffee brettern.

“Ich finde den Druck, den du aufbaust, total unnötig. Nein! Nicht unnötig, schei…” Genau in dem Moment meldet sich mein Chef am anderen Ende der Leitung.
“Finally!” ruft er mir fröhlich zu. Irritiert checke ich mein Handy Display. Nicht, dass ich jetzt doch Mr. Right zurückrufe. Das Display zeigt mir als Kontakt Marcus an. Seltsam. Fröhlich war nicht die Basis unseres Kommunikationsstils, eher kurz und trocken.
“Deine Farben sind save!” flüstert mein Leben mir zu.
“Pscht!” zische ich es an. Schulterzuckend verkrümelt es sich wieder zu ihrer Zeitschrift an den Büro Hochtisch.

“Yeeees?” unbewusst halte ich den Atem an, wie immer, wenn ich mit Marcus telefonierte. Seine Stimme und sein schwedisch gefärbtes Englisch wieder zu hören, verursacht mir eine Gänsehaut und ich schüttle mich innerlich.

“I am so glad I caught you! I have good news from the US. Regarding Max.” Meine Augenbrauen wandern zu meinem Haaransatz hoch. In Wirklichkeit hatten Marcus alles andere als “good news”, sondern wir hatten einen Konflikt. Etwas was ich haße – damals, wie heute. Aber ich konnte nicht anders, denn die tickende Bombe, ich, war explodiert.

Max, wie soll ich das sagen? Art? Annäherungsversuchen? überschritten an einem Tag eine Grenze, auf die ich sehr heftig reagierte. Eine Grenze, die schon jemand vor ihm überschritten hatte.

Ich muss gerade an der Planung der Teilnahme von Junction an dem alljährlichen Kongress in Frankfurt gesessen haben, als über Skype eine Nachricht von Max aufploppte: “Wollen wir uns ein Zimmer teilen?”

Ich war so entsetzt und geschockt über diese Frechheit, dass ich leider vergaß einen Screenshot zu machen. Vielleicht war es als Scherz gemeint, vielleicht war es auch eine Anmache, für mich war auf jeden Fall Schluss mit lustig. Ich erzählte meinem Chef, Marcus, die Geschichte und er glaubte mir nicht. “I am sure he was kidding.” “You are overreacting!” oder mit so was ähnlichem, wimmelte Marcus mich ab.

Er nahm mich nicht Ernst, er nahm Max in Schutz und das allerschlimmste war, dass meine damalige Kollegin Yvette sich in das Gespräch einmischte und nur lapidar meinte, dass Max sie das auch schon gefragt hätte – als ob es das auf irgendeine Weise besser machen würde. Yvette und ich verstanden uns nicht gut, aber dass sie mir als Kollegin und als Frau so in den Rücken fiel, brachte für mich das Faß zum Überlaufen.

Ich glaube an diesem Tag habe ich Marcus die ganze Geschichte von Max erzählt, also nicht nur von der Skype Nachricht, sondern von den vielen kleinen Dingen, die mir vorher schon aufgefallen waren und die sich für mich einfach falsch anfühlten. Ich war so wütend, dass Marcus mich nicht ernst nahm. Ich hörte nicht auf, auf Marcus einzureden, bis er mir versprach mit Max Chef Dick zu sprechen.

Meine Aufmerksamkeit wird wieder auf das Geschwafel von Marcus an meinem Ohr gelenkt: ”… promotion and HR will send out an self assessment, so we have clear rules for every team member.” Ich kann Marcus Stolz quasi durch den Hörer sehen.

“Say the promotion part again?” Fragend schaue ich mein Leben an. Es zeigt mir nur den Daumen nach oben und grinst breit. Meine Mundwinkel rutschen nach oben. In Wirklichkeit hatte ich bei Marcus verzweifelt nach einer promotion, einer Beförderung mit mehr Gehalt gebeten. Das ich von Anfang an den Job von zwei Kolleginnen machte und mich auch noch um das ganze Office Management kümmerte, wurden ebenfalls zur Seite gewischt. Meine männlichen Kollegen wurden allerdings ständig befördert.

Marcus wiederholt nochmal die Summe meiner promotion und bedankt sich dann nochmal mit einem weiteren Schwall von Worten bei mir, dass ich diesen ”incident reported” habe. Breit grinsend lege ich auf. “Was war das denn?” frage ich mein Leben. “Ich habe dir doch gesagt, dass du hier etwas verändert hast! Für dich. Du bist für dich eingestanden! Eigentlich für alle weiblichen Kolleginnen! Ich bin so stolz auf dich!” Mein Leben nimmt mich in den Arm und wirbelt mich in der Büroküche von Junction herum. Die Hochstühle wackeln bedenklich, die rote Espresso Tasse meines Lebens fällt um. Mir wird schwindelig und ich schließe meine Augen.



Anmerkung der Autorin:
Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Alle Namen wurden von mir verändert. Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz anzusprechen und so für mich einzustehen, hat mich damals großen Mut gekosten. Der Kollege „Max“ wurde nicht entlassen, sondern arbeitete eine Zeit lang aus dem Home Office. Seine Verkaufszahlen waren zu gut. Ich verlies die Firma ein Jahr nach diesem Übergriff. Ich möchte dich bitten, dass wenn du jemanden kennst oder selber aktuell in so einer Situation bist, dann – bitte – hole/holt Euch Hilfe, denn die gibt es! 

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (https://www.hilfetelefon.de) ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die (sexuelle) Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Nummer: 08000 116 016

In bedrohlichen Situationen gilt: Sofort den Notruf der Polizei 110 wählen. Dabei muss es noch nicht zu körperlicher Gewalt gekommen sein. Es reicht, dass die Situation als bedrohlich empfunden wird.

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