Mein Leben kann mich mal
“Kannst du bitte zurückkommen?” flehe ich meine Trauer am Handy an.
Ich stehe mitten in “meinem” Wald, der nicht wirklich mir gehört. Ich habe ihn einfach nur so getauft, weil er sich für mich, wie eine zweite Wohnung anfühlt. Dort weine ich genau so viel, wie zu Hause und anstatt meiner stummen Möbel, sind hier die Bäume Zeugen meiner Gefühlswallungen. Mein Da-Glü-Dings war den ganzen letzten Monat wieder in eine graue Filzdecke gewickelt. Dieses Mal aber weil ich ganz krank vor Sehnsucht nach meiner Trauer bin. Mein geliebter Mitbewohner, den ich anfangs als Feind sah und erst nach unseren Zeitreisen als Freund ferkannt habe.
Im Hintergrund bei meiner Trauer höre ich Stimmengewirr, mittlerweile kann ich die Stimmen sogar zuordnen. Da ist die tiefe Stimme von der Trauer um Gesundheit, die immer dann kommt, wenn jemand erkrankt. Die dünne hohe Stimme der Trauer um einen Kindsverlust, die mich immer mit Tränen in den Augen an die Stimme meines Neffens erinnert, als er noch nicht im Stimmbruch war und ich noch in der Blumenstraße gewohnt habe und er und sein jüngerer Bruder mich täglich besuchten. Meine Welt und meine Wohnung in der Tierstrasse sind so still, ich beneide meine Trauer um ihr Leben an der Trauer Uni. Unsere Zeitreisen machen dort ziemlich Karriere. Der Kurs von meiner Trauer ist ständig ausgebucht und sie hat das letzte Mal, als sie über Weihnachten bei mir war, überlegt, ob sie die anderen Trauern als Lehrer ausbilden soll. Ich war dafür. Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn eine weitere Trauer einer Tochter ohne Mutter werden würde.
Meine Trauer bestand auf allerdings auf diversity und kam immer wieder auf die Trauer um ein Haustier zurück.
“Der beste Freund des Menschen, ist quasi, wie ein Kind, dass betrauert werden muss, wenn es stirbt.” hatte sie mir erklärt. Seufzend stimmte ich meiner Trauer zu. Schließlich hatte auch ich schon um ein Tier getrauert. Moritz, der Nachbars-Kater. Ein „Scheidungskind“, das meine Mutter in unser Haus und in ihren geliebten Garten aufnahm, damit er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte.
“Hast du alles aus dem Notfallkoffer gemacht?” frägt mich meine Trauer jetzt am Telefon. Hinter ihr schließt sich eine Tür und die Stimmen der anderen Trauern verstummen.
Bevor meine Trauer wieder zurück an ihre Uni gegangen ist, hatten wir ihren Koffer, der zu einem Bonus der Trauer Uni gehörte mit Post-It Zetteln gefüllt. Auf denen stand, was ich tun kann, wenn mein Herz wieder von der Filzdecke umwickelt war. “Die sind ja viel besser als die von Dan!” habe ich mit meiner Trauer gescherzt. Dan war ein Ex, dem seine Sprache der Liebe es war, mir in meinen Schuhen, meinen Manteltaschen und in meiner Handtasche ebenfalls Post-Its zu hinterlassen, nur halt mit: Ich liebe dich. Monate nach unserer Trennung fand ich diese immer wieder in diversen Verstecken. Jedes Mal weinte ich wieder um ihn und darüber, dass ich nur noch von Liebe und Partnern in der Vergangenheits Form reden konnte.
Meine Trauer hatte nur genervt mit den Augen gerollt und emsig den nächsten Zettel beschrieben.
“Ich habe jeden Tag Tee getrunken, Yoga gemacht, an dich gedacht, mich mit dir in meinem Kopf unterhalten, weiter auf Instagram über dich geschrieben – aber nichts hilft! Ich vermisse dich.” Wasser tropft auf meine Wangen, ich denke erst es ist der schmelzenden Schnee der die Arme meiner Baumfreunde von ihrer schweren Last befreit, damit sie mich besser umarmen können. Aber als ich den Tropfen wegwische, fallen immer neue nach. Es sind meine Tränen. Ich schniefe in meinen Handy-Hörer:
“Ich gehe wieder durchs Tal der Tränen!”
“Immerhin ist es jetzt nur ein Tal und nicht wieder ein Meer!” schmunzelt meine Trauer in mein Handy. Im Hintergrund quietscht eine Schranktür. Ich erinnere mich an die Nacht und Nebel Aktion, in der meine Trauer und ich nochmal ganz kurz zurück in die Vergangenheit von meinem Meer der geweinten Tränen gereist sind, um die magische Holztür zu holen, die mir das Leben gerettet hat. Aus eben dieser Tür entstand der Schrank, der bei meiner Trauer in ihrem Uni-Zimmer steht. Leise klirren Kleiderbügel.
“Was ist mit deinem Leben?” fragt meine Trauer mich und klemmt sich dabei das Handy unters Ohr, was ich daran erkenne, dass ihre Stimme mir jetzt so nah erscheint, als würden wir wieder nebeneinander auf meiner Designer-Couch sitzen und Tee zusammen trinken.
Tja. Mein Leben.
Meine Trauer hatte zu meinem Geburtstag einen Gast eingeladen: mein Leben.
“Das ist es ja gerade!” heule ich wieder auf. Ich stehe am Anfang eines vereisten Pfades. Mitten drinnen sehe ich einen Hasen vorbei hoppeln. Wir blicken uns kurz irritiert an. Der Hase scheint den Kopf über mich zu schütteln und hoppelt dann schnell weiter.
“Ich bin völlig überfordert! Mein Leben hat so viele Fragen an mich.” Ich schniefe nochmal und klemme mir nun ebenfalls das Handy unters Ohr. In meiner Manteltasche krame ich nach einem Taschentuch.
Trööööött.
Meine Trauer ruft in den Hörer: “Mir fallen die Ohren ab!” Schnell halte ich mein Handy von meinem Körper weg.
Hinter mir knirschen Schritte. Ich verkrampfe innerlich. Das passiert mir immer, wenn mich von hinten im Wald jemand überholt. Dieses Mal kommt noch die Angst dazu, dass der- oder diejenige mein Gespräch mitgehört hat. Schnell schlucke ich den Kloß in meinem Hals runter. Kasapis weinen nicht! Die Stimme meines Vaters. Leise füge hinzu: ich schon. Aber nur zu Hause und hinter verschlossenen Türen. Die Stimme meines Vaters immer noch so laut in meinem Kopf zu hören iritert mich und kurz verwechsle ich sie mit der meiner Trauer, die leise aus dem Hörer quäkt.
“Grüß Gott!” Ich schrecke zusammen. Ein älterer Herr überholt mich mit schnellen Schritten, einen großen roten zusammen gerollten Regenschirm in der Hand. Den könnte er mir eigentlich als Schutz vor meinen eigenen Tränen schenken, denke ich noch und antworte ihm schnell: “Hallo. Grüß Gott.” und drehe dabei meinen Kopf zur Seite, so dass er meine verheulten Augen nicht sehen kann.
Ich atme nochmal tief durch. Der Weg, der vor mir liegt erscheint mir sehr lang. So lang, dass ich beginne meine Kondition zu hinterfragen. Sollte ich nicht doch lieber umkehren und mich mit einer Serie auf meinem Designer Sofa und meiner rosa Kaschmir Decke verstecken? Die Worte meiner Therapeutin fallen mir wieder ein:
“Ich sehe bei dir doch die Tendenzen eher wieder in den Rückzug zu gehen.”
Ich weiß nicht, wie meine Therapeutin das macht, aber manche Sätze von ihr treffen mich so dermassen, dass ich sie einfach nicht vergessen kann. Blöde Kuh, denke ich. Ich habe keine Zeit! Ich muss jetzt mein Leben anstatt meiner Trauer durchfüttern. Miete zahlt mir mein Leben auch nicht. Und die ganzen teuren Bio Lebensmittel auf die mein Leben immer beim Einkaufen besteht, reißen ein großes Loch in meine Haushaltskasse.
Hatte ich erwähnt, dass mein Leben, wenn ich das Haus verlasse ständig bei mir ist? Meine Trauer war glücklicherweise unsichtbar, aber mein Leben? Mein Leben verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Das allerschlimmste war: es schlief in meinem Bett. Jede Nacht! Das macht mich total fertig. Es ist viel größer als ich und klaut mir jede Nacht die Bettdecke klaute. Ich musste mir schon eine Ersatzdecke aus dem Keller holen. Die Bettwäsche war ein Erbstück meiner Mutter. Schon regnet es wieder auf meinen Wangen.
Ach Mama… Ich vermisse dich so.
“Hallo? Hallo?” quäkt es leise neben mir. Ich war so in meinen Gedanken versunken, dass einen Satz zur Seite mache. Hinter mir raschelt es im Gebüsch. Schnell drehe ich mich um. Ist das mein Leben? Wir hatten uns über unseren unterschiedlichen Schritt-Tempos gestritten und war es beleidigt schon mal den Weg vor gelaufen. Wie peinlich! Hoffentlich hat mein Leben nicht gehört, dass ich mich über es bei meiner Trauer beschwert habe.
“Trauer?” Ich halte mir den Hörer ans Ohr und blicke mich suchend im Gebüsch um. “Irgendwas ist hier im Busch.” Wieder raschelt es neben mir. Schnell scanne ich den Boden ab. Ist es eine Maus oder eine Frosch? Alles Tiere, die ich in “meinem” Wald schon zu unterschiedlichen Jahreszeiten angetroffen hatte.
“Das ist sicher wieder diese eine Krähe, die bei dir auf dem Dach wohnt und dich verfolgt. Hat sie wieder ihre Erdnuss dabei?”
Ich hatte meiner Trauer ein lange Sprachnachricht geschickt über meine Begegnung an der Isar mit einer Hundebesitzerin. Die Hunde Mama füttertet den Krähen dort immer Erdnüsse, damit kein Streit zwischen ihnen und ihrem Hund ausbricht. Ein paar Tage später hatte ich allerdings eine Erdnuss auf meinem Balkon liegen. Ob nun von den Krähen an der Isar oder aus meinem Stadtviertel, wußte ich nicht. Ich fand es einfach irgendwie schön. Meine Trauer schickte mir einfach nur die Antwort “Magic” zurück.
Ich kneife die Augen zusammen. Liegt hier wirklich wieder eine Erdnuss? Ich versuche in der einsetzenden Dämmerung auf dem vereisten Pfad etwas gelbes zu erkennen. Alles was ich sehe ist: weiß. So weiß, wie das der Krankenhaustür durch die mein Vater mich in das Zimmer meiner Mutter gezogen hatte. Danach sah ich nur noch Gelb. Wachsgelb. Das Gesicht meiner toten Mutter.
Es ist 2024, nicht 1996! denke ich.
Ich bin in meinem Wald.
Ich atme tief ein und aus.
Ein Rat meiner Therapeutin und auch von meiner Trauer.
Ich reibe die Fingerspitzen meiner freien Hand zusammen, in der Hoffnung, dass dieser simple Hautkontakt mich im Jetzt behält und den Sog in meine Vergangenheit stoppt.
Wieder raschelt es hinter mir. Zweige reiben aneinander, ich bilde mir ein, dass jemand meinen Namen flüstert.
“Also du kommst?” flüstere ich ins Telefon und blicke mich suchend um. “Ich komme.” Erleichterung macht sich in mir breit. “Danke!” hauche ich ins Telefon und beende das Gespräch. Ich stopfe mein Handy in meine Manteltasche und drehe mich um. Weg von dem Weg, der vor mir liegt. Hin zu dem Pfad, der mich wieder zurück zu meiner Couch bringt.
“Ü B E R R A S C H U N G!”
Mein Leben springt aus dem Gebüsch und landet genau vor meinen Füßen. Unsere Nasen berühren sich kurz. Ich mache einen Satz zurück und stolpere dabei über einen Stock der quer auf dem Pfad liegt. Fast falle ich rückwärts ins Gebüsch, doch mein Leben ist schneller. Es nach meinen Händen und richtet mich wieder auf. “Ich habe dir doch gesagt, dass ich Überraschungen hasse!” schnauze ich mein Leben an und mache auf dem Absatz kehrt. Wut entbrannt stapfe ich in Richtung meiner Wohnung. “Irene! Warte! Es tut mir leid!”
Ich stapfe weiter.
Mein Leben kann mich mal.