Sylvester mit meiner Trauer

„Ich bin sehr stolz auf dich, Irene, dass Du heute am Grab warst.“ meine Trauer prostet mir zu.
„Am letzten Tag des Jahres an ein Grab zu gehen, fühlt sich scheisse an“ erwidere ich und trinke ein Schluck Prosecco. 
„Und doch ist es DEINE Realität.“
„Ich weiß…“ erwidere ich. 

Ein paar Minuten vergehen in denen die Nachbarn einen Sylvester Böller nach dem anderen zünden. Es ist so laut, dass eine Unterhaltung zwischen meiner Trauer und mir nicht möglich ist. 
Ich gestikuliere meiner Trauer, dass ich reingehe. Meine Trauer nickt und wir beiden betrachten von meiner Couch aus das weitere Raketen Spektakel. 

„Aber irgendwie war es anders, dieses Mal. Am Grab.“ nehme ich den Gesprächsfaden wieder auf. 
Meine Trauer sieht mich an und deutet mir mit der Hand fortzufahren. 
„Ich hatte den Gedanken im Kopf: ich besuche jetzt die Überreste meiner verstorbenen Mutter am Grab. Ich habe das noch nie so bewusst gedacht gehabt, die 10 Millionen Male davor.“ 


„Du übertreibst mal wieder. Es gab auch mal 10 Jahre an denen du das Grab gemieden hast wie die Pest.“ erwidert meine Trauer. 
„Das spielt doch keine Rolle. Solange ich nicht jeden Tag 2x hingehe, wie während meiner depressiven Episode vor ein paar Jahren.“ 
„Hm.“ macht meine Trauer.
„Was ich versuche dir zu erklären ist, dass das erste Mal war, dass ich gefühlt habe, dass sie nicht mehr in mir ist.“ ich zucke entschuldigend die Achseln „Ich kann es nicht anders erklären“.
„Und du willst Schriftstellerin sein“ zieht mich meine Trauer liebevoll auf und nimmt den letzten Schluck aus ihrem Glas. 

„Ich hole mal das Buch der letzten 10 Jahre von uns, dann lesen wir mal nach, wie dein Verhältnis zum Thema Grab sich entwickelt hat – okay?“ 
„Es ist schon halb eins, ich mag ins Bett!“ sage ich und gehe demonstrativ ins Bett. 
Die Schlafzimmer Tür lasse ich noch offen, damit ich noch das Sylvester Feuerwerk vom Bett aus sehen kann. 
„Dann aber morgen!“ ruft meine Trauer, die noch auf Instagram ist und auf der Couch sitzt. 
„Dann morgen.“ antworte ich leise und ziehe mir die Decke über den Kopf. „Auf ein Neues!“ murmle ich und schlafe ein.

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