Tee mit der Trauer
„Klopf, klopf“ – Seltsam, denke ich, Amazon und Hermes waren doch schon da, wer kann das sein? Außerdem ist es Sonntag und ich will meine Ruhe haben.
„Klopf, klopf“ diesmal schon etwas lauter und fordernder. Ich lege meinen Laptop zur Seite und schäle mich aus meiner Couch und öffne die Tür.
„Äh – Hallo?“ frage ich zögerlich. „Hallo! Weißt Du noch wer ich bin?“ antwortet mir eine alt bekannte Stimme. „Äh, ja sicher.“ antworte ich.
Vor mir steht meine Trauer. Sie sieht sehr dreckig aus. Sie stinkt und presst einen zerkrumpelten Plastikbeutel an die nasse Brust. Sie sieht aus wie jemand, der lange im Freien gewohnt hat.
„Kann ich reinkommen?“ frägt sie mich und hat ihren Fuß eigentlich schon in der Tür.
Zögernd öffne ich ihr die Tür und lasse die Trauer eintreten. Mir kommt sie sehr viel kleiner vor, als noch vor ein paar Jahren und sie tut mir leid, weil sie so dreckig ist.
Die Trauer tritt in meine Wohnung und verteilt den Dreck von ihren Schuhe auf meinem Parkett. Mir tritt ein saurer Geruch in die Nase.
„Äh, magst du vielleicht erstmal Duschen gehen?“ frage ich. „Du stinkst.“ Soweit ich mich an unsere letzte gemeinsame Zeit erinnere, ist es für meine Trauer okay, wenn ich direkt mit ihr bin. Die Trauer sieht mich trotzdem beleidigt an und hängt dabei ihren triefend nassen Mantel an meine Garderobe.
„Was erwartest Du?” frägt sie mich entrüstet. “Ich habe die letzten Jahre unter der Brücke geschlafen, weil DU mich rausgeschmissen hast.“
Betroffen mustere ich den Dreck auf meinem Parkett und schweige.
„Dusche?“ frägt die Trauer und seufzt.
„Da lang“ sage ich und deute in Richtung meines Bades.
„Ich mache uns einen Tee.“ rufe ich ihr hinterher, weil ich mich erinnere, dass meine Trauer Tee liebt. Ich stimme sie wohl besser gnädig, denke ich. Sie sah wirklich sehr arm und verfroren aus. Die Trauer nickt mir nur zu und verschwindet im Bad.
Ich setzte mich auf mein Sofa und vor mir stehen zwei dampfenden Tee Tassen. Ich habe leider vergessen meine Trauer zu fragen, welchen Tee sie genau möchte, aber das wird sie mir dann schon sagen, denn auch sie kann mir gegenüber sehr direkt sein. Im Bad höre ich diverse Dinge auf den Boden fallen und mir fällt ein, dass die Trauer immer Chaos in meinem sonst so ruhigen Leben, veranstaltet. Und zwar nicht nur, wenn sie meine teuren Pflegeprodukte “aus Versehen” auf den Boden schmeißt. Meine Trauer ist einfach ein klein bisschen tolpatschig und Ordnung ist ihr nicht wo wichtig.
Nach einiger Zeit setzt sich die Trauer auf meine Couch und beginnt ihren Tee zu schlürfen. Tischmanieren hat sie auch noch nie gehabt, denke ich bei mir.
Immerhin sieht sie jetzt besser aus: ihre Haare sind feucht zurückgekämmt und frische Klamotten hat sie auch an. Moment mal, das ist doch mein Hoodie und meine Jogginghose, die ich wie immer im Bad über der Badewanne habe hängen lassen. Ach, egal. Bloß keine Diskussion jetzt über solche Nichtigkeiten, denke ich. „Und? Was kann ich für dich tun?“ frage ich, nachdem wir einige Zeit schweigend unseren Tee getrunken haben.
„Ich ziehe hier wieder ein.“ Keine Frage, sondern eine Feststellung, stelle ich fest.
Ich deute auf meine große Wohnung, die zwar riesig ist, aber am Ende nur zwei Zimmer mit Tür hat, mein Schlafzimmer und mein Bad. „Ich habe aber nur ein Zimmer.“
Die Trauer zuckt mit der Schulter: „Ist mir Wurscht. Ich schlafe in der Ecke da.“
„Ich habe aber keine Matratze“
„Dann gehen wir halt eine kaufen.“
„Hmp.f“ mache ich.
„Und was willst du essen? Bist du immer noch vegan?“
Die Trauer lacht kurz auf: „Nein, nicht wirklich. Ich esse was du isst.“
Hmpf.“ kommt meine Antwort.
Und sage erstmal weiter: nichts. Auch die Trauer sitzt schweigend da und mustert meine Wohnung. „Schöne Wohnung.“ sagte sie dann nach einer Zeit.
„Danke.“ antwortet ich.
“Sehr ähnlich wie die letzte, wo ich bei dir war.”
Ich nicke und füge stolz hinzu: “Aber dieses Mal gehört sie mir.”
Und dann platzt es aus meiner Trauer raus: „Du, Irene, pass auf. Das geht so nicht mit uns. Du kannst mich nicht immer auf die Straße schmeißen, nur weil du denkst, dass unsere Beziehung zu Ende ist. Ich bin ein Teil von dir.“
„Ich habe aber Angst vor dir.“
„Vor mir?“ sagt die Trauer. „Das verstehe ich nicht.“
“Die letzten Male, wo du bei mir gewohnt hast, ging es mir ziemlich beschissen wegen dir.“
„Na, na.“ macht die Trauer „Daran war nicht nur ich alleine Schuld. Da waren auch noch ein paar andere beteiligt und vor allem du.“
„Hmpf.“
„Was habe ich denn davon, wenn du wieder hier einziehst? Du machst immer so viel Chaos und Dreck und mein Leben verändert sich durch dich immer so radikal?” frage ich die Trauer verzweifelt.
Die Trauer springt auf und läuft zu dem Beutel, mit dem sie vorhin noch ankam.
„Ich habe ein Geschenk für dich.“ stolz drückt sie mir ein kleines Päckchen in die Hand. Das Geschenkpapier ist schon ziemlich verschlissen und die Schleife zerdrückt.
Ich nehme es in die Hand und es fühlt sich wie ein Buch an.
„Mach auf, mach auf.“ aufgeregt hüpft die Trauer auf der Couch ein Stück höher.
Ich löse langsam und vorsichtig das Geschenkpapier. Auf meinem Schoß kullert tatsächlich ein Buch. Es ist groß und schwer. Auf dem braunen Ledereinband sind in Gold die Worte geprägt “Gespräche mit der Trauer” Darunter mein Name: Irene Kasapis.
Ich klappe das Buch auf und es sind lauter leeren Seite.
Verwirrt sehe ich meine Trauer an.
„Ich dachte, es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam alles aufschreiben.“ sagt die Trauer stolz. „Alle unsere Geschichten, der letzten 10 Jahre, die wir zusammen erlebt haben. Du weißt schon, einen Ort zu schaffen, um dich zu erinnern, wie dein Leben mal war, wie es sich angefühlt hat NICHT mit mir zu reden.”
Ich bin so gerührt, dass ich ein paar Tränchen verdrücken muß.
Die Trauer springt auf und wühlt in meiner Küche nach einem Taschentuch.
„Erste Schublade, neben der Spüle, rechts.“ Ich höre wie – wieder – etwas laut scheppernd zu Boden fällt. Die Trauer kommt zurück mit einer Banane für sich und eine Packung Taschentücher für mich.
„Weißt du noch? Damals in Sri Lanka?“ frage ich leise. „Die Geschichte mit dem Wal?“
„Na klar, erinnere ich mich.“ sagt die Trauer und reicht mir einen Stift. Ich fange an zu schreiben. Ein Gefühl der Wärme durchströmt mich gegenüber meiner Trauer, mit ihr an meiner Seite fühle ich mich den vielen Geschichten gewachsen und bin bereit diese aufzuschreiben.
Ich beginne zu schreiben: Sri Lanka, 2017
“Warte mal.” meine Trauer legt mir die Hand auf mein Knie: “2017? Das ist ja über 20 Jahre nach dem Tod von deiner Mutter.”
“Ja. Und?” antworte ich.
“Was war denn in den 20 davor?”
“Na, das weißt du doch, der S, ein paar andere Männer, Jobs, Party, Bali und noch so andere Geschichten.”
“Ich finde du solltest ALLES aufschreiben.” bestimmt meine Trauer.
“Hmm. Ich weiß nicht. Auf der einen Seite schäme ich mich, das zu erzählen und auf der anderen Seite, kannten wir” ich deute zwischen mir und meiner Trauer hin- und her “noch gar nicht.”
Meine Trauer räuspert sich: “Also ICH, war immer da. Du wolltest mich nicht sehen. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich stelle das einfach nur fest.”
Ich beginne an meinem Stift zu kauen: “Ich weiß aber auch gar nicht, wo ich da anfangen soll. Da ist so viel passiert.”
“Am Anfang, Irene. Fang am Anfang an und dann sehen wir weiter.
“Okay. Also wo fange ich?” Ich tippe mit dem Stift auf das Blatt. So viele Gesichter aus der Vergangenheit rauschen an mir vorbei und so viele Geschichten fallen mir ein aus den letzten 20 Jahren. Mein Gehirn geht in einen richtigen Erinnerungsoverload und ich beginne die Geschichte wohl wirklich am Anfang.